Märchen des Monats

Februar 2022

Neuanfang, wohin man sieht...

Wie war das bei meinen Märchen?

Hmmm...eines meiner ersten das ich gehört habe....

Stimmt...das war damals in einem wunderschönen Garten, nicht weit von hier....

 

Von dem Sommer- und Wintergarten

 

Ein Kaufmann wollte auf die Messe gehen, da fragte er seine drei Töchter, was er

ihnen mitbringen sollte. Die Älteste sprach: »Ein schönes Kleid«; die zweite: »Ein

paar hübsche Schuhe«, die dritte: »Eine Rose«. Aber die Rose zu verschaffen, war

etwas schweres, weil es mitten im Winter war, doch weil die Jüngste die schönste

war, und sie eine grosse Freude an den Blumen hatte, sagte der Vater, er wolle

zusehen, ob er sie bekommen könne, und sich recht Mühe darum geben. Als der

Kaufmann wieder auf der Rückreise war, hatte er ein prächtiges Kleid für die Älteste,

und ein paar schöne Schuhe für die Zweite, aber die Rose für die Dritte hatte er nicht

bekommen können, wenn er in einen Garten gegangen war, und nach Rosen

gefragt, hatten die Leute ihn ausgelacht: »Ob er denn glaube, dass die Rosen im

Schnee wüchsen.«

Das war ihm aber gar leid, und wie er darüber sann, ob er gar nichts für sein liebstes

Kind mitbringen könne, kam er vor ein Schloss, und dabei war ein Garten, in dem

war es halb Sommer und halb Winter, und auf der einen Seite blühten die schönsten

Blumen gross und klein, und auf der andern war alles kahl und lag ein tiefer Schnee.

Der Mann stieg vom Pferd herab, und wie er eine ganze Hecke voll Rosen auf der

Sommerseite erblickte, war er froh, ging hinzu und brach eine ab, dann ritt er wieder

fort. Er war schon ein Stück Wegs geritten, da hörte er etwas hinter sich herlaufen

und schnaufen, er drehte sich um, und sah ein grosses schwarzes Tier, das rief: »Du

gibst mir meine Rose wieder, oder ich mach dich tot, du gibst mir meine Rose wieder,

oder ich mach dich tot!« Da sprach der Mann: »Ich bitte dich, lass mir die Rose, ich

soll sie meiner Tochter mitbringen, die ist die Schönste auf der Welt.«

»Meinetwegen, aber gib mir die schönste Tochter dafür zur Frau!« Der Mann, um das

Tier los zu werden, sagt ja, und dachte, das wird doch nicht kommen und sie fordern,

das Tier aber rief noch hinter ihm drein: »In acht Tagen komm ich und hol meine

Braut.«

Der Kaufmann brachte nun einer jeden Tochter mit, was sie gewünscht hatten; sie

freuten sich auch alle darüber, am meisten aber die Jüngste über die Rose. Nach

acht Tagen sassen die drei Schwestern beisammen am Tisch, da kam etwas mit

schwerem Gang die Treppe herauf und an die Türe und rief: »Macht auf! Macht auf«.

Da machten sie auf, aber sie erschraken recht, als ein grosses schwarzes Tier

hereintrat. »Weil meine Braut nicht gekommen, und die Zeit herum ist, will ich mir sie

selber holen.« Damit ging es auf die jüngste Tochter zu und packte sie an. Sie fing

an zu schreien, das half aber alles nichts, sie musste mit fort, und als der Vater nach

Haus kam, war sein liebstes Kind geraubt. Das schwarze Tier aber trug die schöne

Jungfrau in sein Schloss, da war's gar wunderbar und schön, und Musikanten waren

darin, die spielten auf, und unten war der Garten halb Sommer und halb Winter, und

das Tier tat ihr alles zu Liebe, was es ihr nur an den Augen absehen konnte.

Sie assen zusammen, und sie musste ihm aufschöpfen, sonst wollte es nicht essen,

da ward sie dem Tier hold, und endlich hatte sie es recht lieb. Einmal sagte sie zu 

ihm: »Mir ist so Angst, ich weiss nicht recht warum, aber mir ist, als wäre mein Vater

krank, oder eine von meinen Schwestern, könnte ich sie nur ein einziges mal sehen!«

Da führte sie das Tier zu einem Spiegel und sagte: »Da schau hinein«, und wie sie

hineinschaute, war es recht als wäre sie zu Haus; sie sah ihre Stube und ihren Vater,

der war wirklich krank aus Herzeleid, weil er sich Schuld gab, dass sein liebstes Kind

von einem wilden Tier geraubt und gar von ihm aufgefressen sei, hätte er gewusst,

wie gut es ihm ging, so hätte er sich nicht betrübt; auch ihre zwei Schwestern sah sie

am Bett sitzen, die weinten.

Von dem allen war ihr Herz ganz schwer, und sie bat das Tier, es sollte sie nur ein

paar Tage wieder heim gehen lassen. Das Tier wollte lange nicht, endlich aber, wie

sie so jammerte, hatte es Mitleid mit ihr und sagte: »Geh hin zu deinem Vater, aber

versprich mir, dass du in acht Tagen wieder da sein willst.«

Sie versprach es ihm, und als sie fort ging, rief es noch: »Bleib aber ja nicht länger

als acht Tage aus.«

Wie sie heim kam, freute sich ihr Vater, dass er sie noch einmal sähe, aber die

Krankheit und das Leid haften schon zu sehr an seinem Herzen gefressen, dass er

nicht wieder gesund werden konnte, und nach ein paar Tagen starb er. Da konnte sie

an nichts anderes denken vor Traurigkeit, und hernach ward ihr Vater begraben und

dann weinten die Schwestern zusammen und trösteten sich, und als sie endlich

wieder an ihr liebes Tier dachte, da waren schon längst die acht Tage herum. Da

ward ihr etwas Angst, und es war ihr, als sei das auch krank, und sie machte sich

gleich auf und ging wieder hin zu seinem Schloss.

Wie sie aber wieder ankam, war's ganz still und traurig darin, die Musikanten spielten

nicht, und alles war mit schwarzem Flor behangen. Der Garten aber war ganz Winter

und von Schnee bedeckt. Und wie sie das Tier selber suchte, war es fort, und sie

suchte aller Orten, aber sie konnte es nicht finden. Da war sie doppelt traurig, und

wusste sich nicht zu trösten, und einmal ging sie so traurig im Garten, und sah einen

Haufen Kohlhäupter, die waren oben schon alt und faul, da legte sie die herum, und

wie sie ein paar umgedreht hatte, sah sie ihr liebes Tier, das lag darunter und war tot.

Geschwind holte sie Wasser und begoss es damit unaufhörlich, da sprang es auf und

war auf einmal verwandelt und ein schöner Prinz. Da ward Hochzeit gehalten und die

Musikanten spielten gleich wieder, die Sommerseite im Garten kam prächtig hervor,

und der schwarze Flor ward abgerissen, und sie lebten vergnügt miteinander

immerdar.

 

Märchen der Gebrüder Grimm

 

 

Dezember 2021

Ja, manchmal hilft es, wenn man eine Sache auch mal aus einem anderen Blickwinkel sich anschaut.

Es gibt Dinge, die man einfach nicht versteht, nicht nachvollziehen kann.

Dies kann einem beinahe den Verstand rauben.

Wie in meinem Fall bei einem sehr beliebten Märchen.

Ich verstand dieses Märchen lange Zeit nicht, und habe noch viel weniger begreifen können, wieso es so vielen Menschen gefällt.

Dann endlich fand ich eine Version, die dieses Märchen in einem anderen Licht zeigte.

Seit dem gehört es zu meinen Lieblingsmärchen.

Es passt wie kein anderes in die jetzige Zeit.

Und darum möchte ich es mit euch teilen.

Ich hoffe, es bewirkt bei euch ähnliches wie bei mir.

 

 

 

 
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
(aus Sicht eines letzteren)
 
Verzeihung, ich möchte sie kurz um ihre Aufmerksamkeit bitten.
Ich weiss wohl, dass ich lediglich ein Zündholz bin und ihnen daher zunächst vielleicht ungeeignet für ein sinnreiches Gespräch erscheine. 
Derlei erwartet man gewöhnlich nicht von uns.
Wir sollen unsere Arbeit tun, ein hübsches Flämmchen und ein wenig Wärme geben, damit die Herrschaft ihren Nutzen daraus zieht.
Dafür sind wir geschaffen.
Ich und die meinen, und dies ist unserer Natur.
Doch denkt nicht, wir verstünden nichts von eurer Welt. Denn wir sind bei euch, wo immer ihr seid.
In unseren Schachteln liegen wir in euren Kirchen und Palästen.
An den Betten eurer Liebenden ebenso wie an denen eurer Sterbenden.
Wir brennen an euren Wiegen und Gräbern. Wo immer ihr seid, sind auch wir.
Auch wir haben ein Herz. Es mag zu grossen Teilen aus Schwefel und Phosphor bestehen, doch ist es ein Herz.
Und feurig dienen wir mit diesem Herz an Kandelaber, Zündschnur und Kamin.
Es wäre mir darob auch recht, zwischen Ihren Fingern zu verglimmen, zu entflammen und zu verglühen, wie jedes andere Zündholz auch.
Doch ist es so, dass ich gerade heute von einem Suppenlöffel, der aus gutem Holze ist, eine Geschichte vernommen habe, die diesem wiederum von einem Eichenfasse zugetragen wurde, welches sie von einem Wagenrad gehört hat, das die Geschichte auf der Strasse von einem verirrten Streichholz hatte hören dürfen.
Jenes hat die Geschichte selbst erlebt, die euch das Herz gewiss nicht weniger als mir anrühren wird:
Jenes Holz ruhte in einer Schmuckschachtel von hübschem Preussischblau mit roten, geschwungenen Lettern darauf.
Diese bildeten einen Firmennamen, der den Zündhölzern im Inneren der Schachtel jedoch vollkommen egal war. 
Von innen sah man ihn ohnehin nicht, und ausserdem können sie weder lesen noch schreiben.
Die Schachtel aber war eine gute Heimat.
Manchmal vernahm es inmitten der seinen von aussen her das undeutliche Raunen der Welt, doch wusste es von ihr nicht eben mehr, als ein Zündholz wissen muss.
Das Schwefelhölzchen erinnerte sich an den Wechsel der Jahreszeiten, und konnte, je nachdem ob es kälter oder wärmer wurde, selbst im Inneren jener preussisch-blauen Schachtel sagen, ob es Sommer oder Winter war.
Jene Geschichte ereignete sich inmitten des kältesten Winters.
Es ruhte bereits zwei Jahre mit den seinen in der Schachtel und man kannte sich mit Namen.
Kein Zündholz hatte vor den anderen noch Geheimnisse, da wurde die Schachtel plötzlich aufgetan.
Und zwar von einem Menschenkind, das mit wirrem Haar und grossen Augen elend in das Schächtelchen blickte.
Da erst begriff das Hölzchen, wie bitterkalt es wirklich sein musste.
Der Atem des Kindes gefror schier in der Luft, und der Himmel mit den Sternen war so klar, wie es das Schwefelhölzchen noch vom Baum her aus den kältesten aller denkbaren Nächte kannte.
Das Mädchen - denn um ein solches handelte es sich - hockte, das Schächtelchen in der Schürze, am Ende einer verschneiten Gasse auf einigen ausgetretenen Stufen.
In den Fenstern sah das Zündholz Lichter, in der Luft hing der Duft gebratener Tiere und aus den Häusern drangen Frohsinn und Gelächter, so dass es wohl Weihnacht oder aber der Silvesterabend sein musste, da Menschen sich vor allem in derlei Winternächten auf diese Art gebärden.
Das Streichholz blickte sich um, soweit der Rand der Schachtel es erlaubte, da fasste mit zitternden Fingern – ganz blau waren sie, so kalt war es – das Kind nach einem Zündholz (jenem, das drei Hölzer entfernt lag).
Es hielt die grossen, furchtsamen Augen darauf gerichtet, zögerte einen kurzen Moment und riss es an.
Da ging ein Raunen durch die übrigen Hölzer:
Einer von Ihnen war seinem Zweck zugeführt worden!
Leise jubelten sie ihrem Kameraden zu. Nur jenes eine nicht.
Das nämlich blickte nachdenklich in die Augen des Kindes, in denen sich im Widerschein der Flammen Sonderbares spiegelte.
Da war etwas, das gar nicht da war, nicht da sein konnte: In ihren Augen sah das Hölzlein statt der kalten Gasse einen Ofen aus Messing, in dem das Feuer lustig prasselte und der so warm war, dass der Schnee um das Mädchen beinahe zu schmelzen schien.
Dann aber verlosch das Schwefelhölzchen und mit ihm der Jubel der anderen Hölzer, und auch das Bild verschwand.
Hastig griff das Kind nach einem weiteren Holz (dieses lag nun etwas weiter entfernt), riss es an, und während die Zündhölzer jubelten, konnte das eine in den Augen des Mädchens sehen, wie die Häuserwände in seiner Vorstellung durchsichtig wurden, wie aus einer Stube mit reich gedecktem Tisch der Gänsebraten, bemessert und begabelt, sich vom Tisch schwang und direkt auf sie zueilte,
Doch dann verlosch das Holz wieder, Wände waren Wände, der Braten unerreichbar und das Kind fror mit jedem Augenblick stärker. 
Es nahm ein drittes Hölzchen vom anderen Ende der Schachtel.
Das flammte auf, und in den Augen des Mädchens spiegelte sich statt Schnee und Eis ein Christbaum, wie es prächtiger keinen geben konnte und wie er Kinder und Zündhölzer in aller Welt beeindruckt.
Da waren zahllose Kerzen, zahllose Lichter, und auch als auch jenes Holz erlosch, strebten all diese Lichter in den Himmel, um sich dort zu einem grossen Stern zu vereinen, der wenig später nur mit feurigem Schweif herab vom Himmel stürzte.
 Das Schwefelholz sah, wie die bleichen Lippen des Menschenkindes sich regten und es wie zu sich selbst flüsterte: »Jetzt stirbt ein Mensch.» 
(derlei Ideen wurden Menschenkindern von alters her von ihren Grossmüttern erzählt und so, dachte bei sich das Zündholz, war es gewiss auch hier gewesen.)
Hastig packte das Mädchen ein weiteres Hölzlein, nun eines direkt neben unserem Hölzchen, und riss es an.
Ein Lächeln legte sich auf seine blassen Lippen und in den Augen des Kindes erkannte das Zündholz das Spiegelbild einer alten Frau, die lachend ihre Arme ausbreitete.
Das Lachen bestand ganz aus Falten und war so voll von einem Zauber, dass dem Streichholz ganz warm wurde.
«Grossmutter!» hörte es die Kleine rufen.
«Oh, nimm mich mit! Ich weiss, du bist fort, wenn das Schwefelhölzchen ausgeht, fort wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der grosse, gesegnete Weihnachtsbaum!»
Da griff das Mädchen nach dem restlichen Bund Zündhölzer und riss sie alle auf einmal an, wobei jedoch das eine zu Boden und in den Schnee fiel.
Von dort aus sah es, wie die Seinen heller als der lichte Tag aufflammten und wie im Auge des Kindes die Grossmutter nähertrat und es liebevoll auf den Arm nahm.
Dann brachen die grossen Augen des Mädchens.
Lächelnd sass es dort, während der Schnee seinen kleinen kalten Körper zudeckte, der von zig abgebrannten Schwefelhölzern umgeben auf den ausgetretenen Stufen am Ende der Strasse lag.
Und dieses kleine Mädchen ist der Grund, weshalb ich sie bitten möchte, mich heute nicht anzureissen, um einen Herd oder einen Ofen zu befeuern.
Ich weiss, dass ich bloss ein Zündholz bin und derlei mir eigentlich nicht zusteht.
Doch bitte ich euch, lasst eure Kanonen, eure Dampfmaschinen schweigen.
Haltet inne und lasst uns eines anderen Feuers gedenken.
Zumindest heute Nacht.
Wahre Märchen/Annie Bertram und Freunde/ Autor: Christian von Aster 

September / Oktober 2021

Ja genau, zwei Monate zusammen....

Zwei Monate, die ihre Berechtigung einforderten....

Beruflich, Privat, allgemeine Situationen.....

Es liegt mir fern, meine Meinung zu aktuellen Themen zu äussern.

Ich weiss nur, dass das was momentan zählt, definitiv die Geduld ist...

Geduld fürs Einkaufen, für Termine, für das Märchen des Monats (.....), für die anderen Leute.....

Ein Koreanisches Märchen erzählt von der Geduld folgendermassen:

 


August 2021

Das Märchen des Monats hat sich wieder etwas verspätet....

Entschuldigung.....

Geniesse Momentan jeden Sonnenstrahl.... Man weiss nie, wann es wechselt.....

Ernsthaft....der Sommer 2021 war eher...nass......bis jetzt....

Der Wettergott hat sich schon in meinem Juli Märchen gemeldet.....

Warum also nicht auch im August...

Ja....

Es ist wieder mal Zeit für ein Wassermärchen....

 

 

Cola Pesce

 

Es war einmal in Messina eine Mutter, die hatte einen Sohn, der hieß Cola.

Vom frühen Morgen bis zum Abend blieb er immer im Meer und badete.

Die Mutter rief ihm oft vom Ufer aus zu: »Cola, Cola, komme an Land! Was machst du? Du bist doch nicht etwa ein Fisch!«

 

Er aber schwamm immer weiter hinaus.

Die arme Mutter litt große Ängste und begann fürchterlich zu schreien. 

Eines Tages brachte Cola seine Mutter so zum Schreien, dass die Arme, als sie sah, dass sie ihn mit Rufen nicht mehr erreichen könne, ihm einen wilden Fluch nachschickte: »Cola, dass du doch ein Fisch würdest!«

Man sieht, dass an jenem Tage die Himmelpforten offen waren, denn der Fluch der Mutter erfüllte sich sofort: Cola wurde halb Mann, halb Fisch.

An den Händen wuchsen ihm Schwimmhäute wie einer Ente, und sein Mund wurde zu einem Froschmaul.

Cola kehrte nun nicht mehr ans Land zurück, und die Mutter wurde von Verzweiflung ergriffen und starb nach kurzer Zeit.

 

Das Gerücht, dass im Meer von Messina ein Wesen, halb Mensch, halb Fisch, sei, gelangte bis zum König.

Der König befahl allen Schiffen, wenn einer von ihnen Cola Pesce sähe, so möge er ihm sagen, der König wolle ihn sehen.

 

Eines Tages fuhr ein Schiffer auf dem hohen Meer und sah Cola Pesce in der Nähe vorbeischwimmen.

»Cola«, rief er, »der König von Messina will mit dir sprechen!«

Und Cola Pesce schwamm sofort zum Königspalast.

Der König empfing ihn huldvoll.

»Cola Pesce«, sprach er, »da du ein so guter Schwimmer bist, sollst du mir um ganz Sizilien herumschwimmen und mir kundtun, wo das Meer am tiefsten ist und was man dort sieht!«

Cola Pesce gehorchte und begann, um Sizilien herum zu schwimmen.

Bereits nach kurzer Zeit war er zurückgekehrt.

Er erzählte, er habe auf dem Meeresgrund Berge, Täler, Höhlen und Fische aller Art gesehen, aber er habe nur Furcht gehabt, als er das Cap Faro umschwommen habe, denn dort sei es ihm nicht gelungen, den Meeresgrund zu finden.

»Und dann will ich noch wissen: Worauf ist Messina gebaut?« befahl der König.

»Du musst hinuntertauchen und sehen, worauf es ruht!«

Cola tauchte und blieb einen ganzen Tag lang unter Wasser.

Dann kehrte er an die Oberfläche zurück.

»Messina ist auf einem Felsen erbaut, und dieser Felsen ruht auf drei Säulen: Eine ist heil, eine gespalten und eine geborsten.«

 

O Messina, o Messina,

Eines Tages liegst du in Trümmern.

 

Der König war sehr verwundert und ließ Cola Pesce nach Neapel kommen, damit er dort den Grund des Vulkans erforsche.

Cola stieg hinab und erzählte dann, er habe erst kaltes Wasser vorgefunden, dann warmes und an einigen Stellen sogar Quellen mit Süßwasser.

Der König wollte das nicht glauben, aber da ließ sich Cola zwei Flaschen bringen, mit denen tauchte er und brachte die eine mit warmem Wasser, die andere mit Süßwasser zurück.

 

Nun ließ den König der Gedanke, dass das Meer bei Cap Faro ohne Grund sein solle, keine Ruhe.

Er ließ Cola Pesce wieder nach Messina zurückrufen und befahl ihm: »Cola, du musst mir sagen, wie tief das Meer beim Cap Faro ist!«

Cola glitt in die Tiefe und blieb zwei Tage unten.

Als er wieder auftauchte, sagte er: »Ich habe den Meeresgrund nicht gesehen, denn dort ist eine Rauchsäule, die unter einem Felsen hervorquillt und das Wasser trübt.«

Der König konnte seine Neugier nicht mehr bezähmen und sprach: »Stürze dich vom Turm des Felsens auf Cap Faro ins Meer!«

Der Turm stand auf der Spitze des Caps Faro, und vor Zeiten befand sich dort eine Wache, welche die Schiffe, die vorbeifuhren, warnte, sobald eine gefährliche Meeresströmung einen Strudel bildete.

Cola Pesce stürzte sich von dort oben kopfüber hinunter.

Der König wartete einen ganzen Tag, einen zweiten und einen dritten.

Aber Cola ließ sich nicht blicken.

Endlich tauchte er auf, aber er war totenbleich.

»Was gibt's, Cola?« fragte der König.

»Ich bin schier gestorben vor Schrecken«, versetzte Cola Pesce.

»Ich habe einen riesigen Fisch gesehen mit einem so großen Maul, dass ein ganzes Schiff darin Platz hätte.

Um nicht verschluckt zu werden, musste ich mich hinter einer der drei Säulen verstecken, die Messina stützen.«

Der König hörte mit offenem Munde zu; aber seine verfluchte Neugier, wie tief das Meer dort sei, ließ ihn nicht ruhen.

Doch Cola sagte: »Nein, Majestät; ich tauche nicht mehr dorthin. Ich habe Angst!«

 

Der König sah, dass er ihn durch nichts überreden konnte. Da nahm er seine Krone vom Haupt; die war übersät mit kostbaren Edelsteinen. Mit einem großen Schwung warf er sie ins Meer.

»Geh und bring sie mir zurück, Cola!« befahl er.

»Was habt Ihr gemacht, Majestät? Die Reichskrone!«

 

»Eine Krone, wie es keine zweite auf der Welt gibt«, entgegnete der König.

»Cola, du musst sie mir um jeden Preis wiederbringen!«

 

»Wenn es Euer Wille ist, Majestät, dann werde ich eben hinabsteigen, aber mein Herz sagt mir, dass ich nicht zurückkommen werde. lasst mir eine Handvoll Linsen geben.

Wenn ich dem Ungeheuer entrinne, dann werde ich wiederkehren, wenn Ihr dagegen die Linsen aufsteigen seht, dann nehmt das als Zeichen, dass ich nie wieder auftauchen werde.«

 

Der König ließ ihm die Linsen bringen.

Cola stieg in die Tiefe.

Der König aber wartete und wartete, und endlich, nach langem vergeblichem Warten, erschienen die Linsen auf der Oberfläche des Wassers.

Auf die Rückkehr von Cola Pesce aber wird heute noch gewartet.

 

www.hekaya.de

 

 


 

Juli 2021

Manchmal gestaltet sich die Suche nach dem Monatsmärchens sehr schwierig.

Manchmal ist sie leicht.

Und manchmal sitze ich am Küchentisch, studiere, sinniere, schaue aus dem Fenster, und....der Wettergott schickt mir ein Zeichen...

 

Die Entstehung des Gewitters

 

Früher lebten einmal ein Teufel, der Riermirsor, und eine Nymphe, die Mekhala hiess.

Die beiden studierten bei einem berühmten Einsiedler, der über magische Kräfte verfügte, die Kunst der Magie.

Der Teufel und die Nymphe lernten ausgezeichnet, sie wetteiferten miteinander, denn jeder wollte den Kru zufriedenstellen.

Und so lagen die beiden ständig miteinander in Streit.

Der Einsiedler hatte beide gleich lieb, er zog keinen dem anderen vor.

Einmal unterbrach der Kru seine Lehre, denn er wollte seine Schüler prüfen und sehen, wer von den beiden der bessere sei.

So sprach er zu ihnen :"Jeder von euch versuche, mir ein Glas zu bringen, das mit Tau gefüllt ist. Ich werde das Wasser in einen magischen Kristall verwandeln. Durch die Kraft dieses Juwels wird dem Besitzer hinfort alles gelingen, was er auch tut, und jeder Wunsch wird ihm erfüllt werden."

Darauf nahm Riermirsor ein Glas und ging den Tau einsammeln, der auf den Blättern der Bäume und auf den Gräsern lag.

An vielen Morgen bemühte er sich sehr, sein Glas zu füllen, aber er hatte nur wenig Erfolg.

Mekhala hingegen, die eine Frau war und deshalb weiter sah, holte sich weiches, lockeres Holzmark.

Damit betupfte sie die Blätter und Gräser, bis sich das Mark mit dem Tau vollgesogen hatte, und dann drückte die Nymphe den Tau in ihr Glas.

Das war der Grund, weshalb es ihr schnell gelang das Glas zu füllen.

Als es gefüllt war, überreichte sie es dem Kru, der nun erkannte, dass die Nymphe klüger als der Teufel war.

Der Kru murmelte eine Zauberformel, und aus dem Tau wurde ein Kristall.

Den gab er Mekhala und sprach :"Dieser Kristall hat wunderbare Eigenschaften, wenn du einen Wunsch hast, so brauchst du den Kristall nur hochzuheben und zu drehen, augenblicklich wird er erfüllt sein. Mehr noch, durch die wunderbaren Eigenschaften dieses Kristalls wirst du in der Lage sein zu fliegen. Du kannst durch die Lüfte und die Wolken dringen, du kannst überall hin, wohin du nur willst."

Da nahm die Nymphe den Kristall in Empfang.

Sie hob ihn hoch, drehte ihn ein wenig, und plötzlich flog sie bis in den Himmel in ein grosses Meer.

Riermirsor, der mit grosser Geduld auf seine Weise das Glas noch gefüllt hatte, überreichte es ebenfalls dem Kru.

Dieser sprach :" Mein Sohn, du kommst zu spät. Die Zeit die ich dir zugestanden habe, ist verstrichen. Mekhala hat das Juwel schon erhalten, und eine solche Kostbarkeit habe ich nur einmal zu vergeben."

Als Riermirsor diese Worte hörte, war er sehr niedergeschlagen.

Es überkam ihn eine grosse Traurigkeit, und er weinte laut.

Um den armen Teufel zu besänftigen, sagte der alte Asket :" Sei nicht traurig, mein Sohn, warte, ich gebe dir eine Axt, damit kannst du kämpfen und dir den Kristall erobern.

Mekhala fliegt ohnehin nur zum Vergnügen durch die Lüfte, um sich im Regenwasser zu baden. Wenn es wieder einmal regnet, dann schleudere die Axt auf sie, und sie wird den wertvollen Kristall fallen lassen.

Aber in der Zeit, da ihr gegeneinander kämpft, musst du achtgeben, wenn sie den Kristall erhebt und dreht. Denn in diesem Augenblick, bevor du die Axt auf sie schleuderst, musst du die Augen schliessen."

Nachdem Riermirsor die Axt in Händen hatte, erhob er sich in die Lüfte und suchte Mekhala, um sich ihren magischen Kristall zu erobern.

Als er sie schliesslich gefunden hatte, wusste die Nymphe sogleich, dass der Teufel nichts Gutes im Sinn führte.

Sie erhob den Kristall, drehte ihn und flog höher in den Himmel und immer höher und höher.

Der Kristall leuchtete hell, und als der Teufel ihn erblickte, schloss er die Augen und schleuderte seine Waffe.

Sie flog schnell, und von Ferne hörte man ihr Getöse, aber sie erreichte die Nymphe nicht.

Von dieser Zeit an kann man bei Gewitterregen den Kristall leuchten sehen und den Lärm der Waffe hören.

 

Märchen der Khmer / Drei Lilien Verlag

 

Juni 2021

Endlich, nach einem doch recht kalten und durchzogenen Frühling, streicheln die warmen Sonnenstrahlen die Haut, das Gemüt und die Sinne.

Man hält sich wieder gerne draussen auf.

Kein studieren mehr morgens, wieviele Kleiderschichten es heute braucht.

Und nicht nur wir geniessen die Sonnenstrahlen und fügen uns in den Jahreskreislauf.... 

 

 

Olivenbaum

 

Wer kann sich sein Schicksal schon aussuchen?

Reiche Prinzen müssen in armen Königshäusern leben, faule Bauern in fleissigen Ländern, Leute, die meinen, sie seien Besseres, unter Leuten, die Besseres sind.

Ein Vogel hat mal gesagt, unter Adlern sei er ein Adler und unter Fliegen

 eine Fliege. – Ich glaube, dieser Vogel liebte das Leben!

Und auch die Raupe, die auf einem Olivenbaum wohnte, war glücklich und zufrieden. 

Sie wusste ja nicht allzuviel von der Welt.

Sie hatte ihre Nase, und die erzählte ihr vom Duft der schwarzen Oliven.

Sie hatte ihre Ohren, und die hörten die aufregenden Geschichten des Windes.

Das war alles, und glaubt mir, das ist schon recht viel im Leben einer Raupe.

Dem Olivenbaum ging es ähnlich.

Er war ein alter Herr und wusste deshalb ein bisschen mehr von den Vorgängen rund um ihn.

Nichts schien ihn aufzuregen, er nahm alles hin wie es kam.

Sein Freund Mond berichtete ihm die Neuigkeiten, Klatsch und Tratsch, weil der ja viel herumkam.

Und ab und zu hörte er auch seltsame Stimmen, die immer dann auftauchten, wenn seine Oliven verschwanden.

Na, und damit wäre auch schon alles erzählt.

Deshalb schien es nicht wirklich verwunderlich, dass Olivenbaum verwirrt war, als er eines Tages so ein merkwürdiges, aber durchaus angenehmes Kitzeln auf seinem Stamm spürte.

Es war die Raupe.

So etwas hatte Olivenbaum noch nie erlebt, er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern.

Er versuchte, mit der Raupe ins Gespräch zu kommen.

Aber glaubt mir, dass war gar nicht so einfach.

 „Hallo“, schien ihm eine unverbindliche Anrede zu sein.

„Hallo Sie, wer sind sie denn?“

Erschrocken drehte sich die Raupe nach allen Seiten um, sie wusste ja nicht, ob sie gemeint war.

Warum hatte die Natur oder sonstwer ihr auch keine Augen geschenkt!

„Sollten Sie mich meinen, ich bin eine Raupe. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„ Ich bin ein Olivenbaum. Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Das hatte er irgendwann mal gehört, und jetzt schien ihm der passende Moment gekommen, es auch mal anzubringen.

Die Raupe war sehr beeindruckt, kein Wunder, es war ja das erste Mal, dass jemand richtig mit ihr sprach.

Und Olivenbaum empfand es auch als äusserst angenehm, dass man seine Klugheit und Gewandtheit zu schätzen wusste.

Es entwickelte sich eine richtige Freundschaft.

Man tauschte Erfahrungen untereinander aus, redete über dies und das.

Na ja, und es blieb natürlich nicht nur bei einem Gedankenaustausch. 

Sie sagten sich Zärtlichkeiten und Komplimente. 

Ob das nun ein: „Nein, wie stark Sie doch sind!“ der Raupe war, wenn der Wind mal wieder betrunken herumkurvte und sie sich gerade noch hinter den Stamm retten konnte, oder ein lustvolles Lachen des Olivenbaumes: „Wie zart Sie immer an meinen Blättern knabbern. Ach, wie ist das aufregend!“ 

Nun, so ging das den ganzen Tag hin und her.

Aber noch etwas beschäftigte beide in gleichem Masse: Der eine wusste vom anderen nicht, wie der aussah. 

Sie vermieden dieses Thema. 

Die Raupe gehörte nicht gerade zu den schönsten Geschöpfen, und so ein Olivenbaum… Er persönlich hielt sich nicht für besonders attraktiv. 

So schwiegen beide.

Wahrscheinlich hätte diese Romanze das übliche Ende genommen, kennt Ihr ja, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat und so, wäre nicht folgendes passiert: Ein Vogel hatte die Raupe entdeckt und war drauf und dran gewesen, sie zu verspeisen.

Nur ein allerletztes Eingreifen Olivenbaums, mit Unterstützung des Windes, verhinderte das Schlimmste: Olivenbaum hieb mit einem Ast auf den Vogel ein, der ohnmächtig zu Boden fiel.

Seit diesem Moment sprach die ganze Umgebung nur noch von Liebe zwischen der Raupe und dem Olivenbaum.

Und, glaubt mir, nicht alle nahmen sie ernst. 

Dieses Erlebnis aber machte die beiden mutiger im Zeigen ihrer Gefühle.

„Sag, Olivenbaum, wie siehst du eigentlich aus?“

Diese Frage hatte er einerseits befürchtet, andererseits gab sie ihm die Gelegenheit, sich auch nach ihrem Aussehen zu erkundigen.

„Raupe, ich weiss es auch nur von Erzählungen, aber man sagt (hier stockte er ein bisschen) es geht ein silbernes Licht von meinen Ästen aus.

Und meine Blätter bilden eine strahlende Krone.“

Glaubt mir, es war nicht einfach, die Erzählung über sein Aussehen ein bisschen auszuschmücken.

Aber es war doch nur, weil er seine Raupe nicht erschrecken wollte und weil er dachte, dass sie sowieso nie erfahren würde, wie er wirklich aussah.

„Aber jetzt, Geliebte, musst du mir auch endlich von deinem Aussehen erzählen.“

Die arme Raupe. 

Als Freundin eines so wunderschönen Baumes konnte sie ihn nicht mit der Wahrheit enttäuschen.

„Mein Olivenbaum, auch ich weiss es nicht genau, aber ich habe gehört, ich soll ein buntes, farbiges Kleid tragen.

Und ich soll Flügel haben wie ein Vogel, und ich könnte, wenn ich wollte, auch fliegen.“

Was sie sich zum Schluss ausgedacht hatte, schien der Raupe selbst sehr gewagt, aber es sollte diesem edlen Baum zeigen, wie sehr sie ihn liebte.

Denn fliegen zu können und trotzdem auf seinem Stamm zu bleiben, das beeindruckte sie sogar selbst!

Olivenbaum und Raupe atmeten auf.

Keiner hatte des anderen Schwindel durchschaut.

Sie waren glücklich, erzählten sich weiterhin Geschichten, und der Mond, der Wind und die Vögel waren ihre Freunde.

Und wenn sich nichts geändert hätte, wäre es heute noch so…

Eines Tages erkrankte die Raupe. 

Sie rührte sich nicht mehr von der Stelle, sagte kein Wort, ja, sie ass sogar nichts mehr von den Blättern.

Olivenbaum war traurig, wusste nicht, was geschehen war, und rief immerzu nach ihr.

Er fragte die Freunde, aber auch die verhielten sich eigenartig, gaben nichtssagende Antworten und trösteten ihn. 

Sie sagten, es würde schon alles wieder in Ordnung kommen.

Seine Raupe schliefe, das müsse so sein.

Keiner brachte es übers Herz, ihm zu sagen, dass sein Rufen, seine Hoffnung umsonst war.

Dass er seine geliebte Raupe niemals mehr hören und spüren würde.

 

Es war ein wunderschöner Frühlingstag, als der Wind ganz vorsichtig und zart über die Raupe strich:

“ Raupe, erschreck dich nicht, Frühling hat dir ein neues Kleid angezogen und hat…. Deine Füsse ein bisschen verwandelt. 

Und er hat dir noch etwas mitgebracht: etwas, womit du deinen Olivenbaum wirst sehen können – Augen. Mach sie auf und schau dich um!“

Und die Raupe öffnete ihre Augen.

Sie sah die Sonne und den Himmel.

Sie sah ihr farbiges Kleid, sah die Freunde und ... ihren Olivenbaum. 

Wie schön er doch war.

Noch viel schöner, als er ihr erzählt hatte.

Die Blätter, die sie sah, waren aus Silber, und die Äste bildeten eine Krone, die heller strahlte als ... als alles andere!

»Olivenbaum! Hallo Olivenbaum, ich bin wieder gesund!«

Olivenbaum glaubte zuerst an einen Scherz, aber dann wusste er, es war die Stimme seiner Raupe.

Sie war wieder da, er hatte es gewusst, nein, er hatte es gehofft.

»Sag, was war los mit dir? « 

Und Raupe erzählte.

Von ihrem neuen Kleid, von den Flügeln, den Augen, von ihrem neuen Namen.

Glaubt mir, als Olivenbaum das hörte, meinte er, ein Blitz würde in seine Krone schlagen.

Nun sah sie seine »silbernen« Blätter, seine krummen, grauen Äste, die nichts von einem Licht an sich hatten.

Wahrscheinlich würde sie keine Minute länger bei ihm bleiben. 

Und als er spürte, wie seine Raupe ihre Flügel spannte und aufflog, ging ein derartiges Beben der Trauer durch ihn, dass einige Oliven zu Boden fielen – so etwas passiert einem Olivenbaum sonst niemals. 

»Olivenbaum, ich kann fliegen, fliegen, fliegen!!! «

Ja, sie konnte wegfliegen, und er musste bleiben.

»Flieg nur, Raupe, flieg. « 

Raupe flog.

Von einem Ast zum anderen.

Sie umflog die Krone und küsste den Stamm.

Und wenn der Wind ein kleines Spiel mit ihr treiben wollte, da packte sie eines der silbernen Blätter und hielt sich daran fest.

Sie verließ niemals die Arme ihres Olivenbaumes. 

Für ihn begann ein neues Leben.

Ein Leben so schön, wie er es bisher nur geträumt hatte.

Er wusste es jetzt, alle wussten es: Was der Mond immer erzählt hatte, war keine erfundene Geschichte: Die Liebe gibt's wirklich!

Und weil sich nichts geändert hat, ist es auch noch heute so. 

 

Übrigens, sagt nichts und freut euch, wenn ihr mal einen Schmetterling von silbernen Blättern und leuchtenden Bäumen erzählen hört.

Für ihn ... sind sie silbern.

 

Folke Tegetthoff/ Liebesmärchen / Nymphenburger


 

April 2021

Beltane/ Walpurgisnacht ist in greifbarer Nähe.

Eine Nacht, in der man durchaus dem kleinen Volk begegnen kann....

Wer dies anstrebt sei gewarnt, mit dem kleinen Volk ist nicht zu spassen!

Begegnet man ihnen mit Aufrichtigkeit, hat man nichts zu befürchten.

Wehe dem, der sie versucht zu betrügen....in dessen Haut möchte ich nicht stecken.....

Seid vorsichtig in den nächsten Wochen......

 

 

Der Schatz

Elfen und Feen können so gross sein wie der Sturmwind, der über die Meere braust, und sie können sich so klein machen wie eine Gänseblümchenknospe.

Wenn sie in Not sind, können sie die menschliche Sprache sprechen, und manchmal klingt sie wie Donnergrollen oder wie das Rascheln von Blütenblättern.

Eines Tages ging ein Hirtenmädchen quer durch den Erlenwald zu seiner Herde und dachte an seine Hochzeit.

Wer aber im Glück ist, kann die Elfen sehen, und das Mädchen sah eine kleine Elfe mit Flügeln wie eine Libelle auf einem Moospolster liegen und schlafen.

Da knüpfte es sich schnell das rote Halstuch ab und warf es auf die Elfe.

Sie verfing sich mit den Flügeln in dem Stoff und war gefangen, denn das Mädchen band flink die vier Zipfel zu und liess den Beutel am Zeigefinger tanzen.

"Lass mich frei!", rief die Elfe. "Ich ersticke!"

"Sehr gern", antwortete das Mädchen und lachte, "was gibst du mir dafür?"

"Ewige Schönheit", sagte die Elfe.

"Das ist mir nicht genug!" antwortete das Mädchen.

"Was willst du denn noch?"

"Was kannst du mir dazugeben?" fragte das Mädchen.

"Ewige Jugend", erwiderte die Elfe.

"Das ist mir nicht genug!" sagte das Mädchen.

"Was willst du denn noch?"

"Deinen Schatz!" rief das Mädchen und schüttelte den Beutel.

"Den kannst du haben."

"Und wo ist er?" fragte das Mädchen.

"Dort drüben, unter der Erle vergraben."

Da knüpfte das Mädchen das Tuch wieder auf, nahm die Elfe fest bei den Flügeln und liess sich zu der Schatzerle führen.

"Hier?" fragte es.

"Hier", antwortete die Elfe und das Mädchen liess sie frei.

Weil es aber keinen Spaten bei sich hatte, band es das rote Tuch um den Erlenstamm und lief heim, um sich einen Spaten und eine Kiepe für den Schatz zu holen.

Als es jedoch zum Erlenwald zurückkam, hatte jeder Stamm eine rote Schleife, und das Mädchen warf wütend die Schaufel ins Moos und lief weinend heim ins Dorf.

"Was weint die fremde Frau denn so?", fragten die Leute, denn das Mädchen war so schön geworden, dass es keiner erkannte, die eigene Mutter nicht und der Bräutigam nicht, und keiner liess es in sein Haus.

So musste das Mädchen in die weite Welt hinaus, und weil es in seiner Gier zur ewigen Schönheit auch noch ewige Jugend verlangt hatte, so wird es nicht gestorben sein und lebt vielleicht noch heute.

 

Sybil Gräfin Schönfeldt/ Nordische Sagen und Märchen/ Tulipan Verlag

 


März 2021

Letztens im Internet gefunden;

"Das Schöne am Frühling ist, dass er immer dann kommt, wenn man ihn am dringendsten braucht"

(Jean Paul, Schriftsteller)

Wahre Worte, wie ich finde....

Die Vögel zwitschern, als wäre es nie anders gewesen, der erste Schmetterling, die erste Hummel, die ersten Blumen strecken ihre Blüten in die milde Sonne, Bienen die fleissig von Blüte zu Blüte eilen.....

Apropos....wisst ihr eigentlich, wie es lief, als die Blumen erschaffen wurden?

 

Januar 2021

Neues Jahr, neues Glück heisst es so schön.

Gute Vorsätze nehmen, habe ich schon lange aufgegeben, da ich mit den schlechten vom letzten Jahr noch gar nicht durch bin....

Wahrscheinlich ist es den meisten nicht sonderlich schwer gefallen ist, das alte Jahr loszulassen.

Und doch wird uns vieles auch dieses Jahr begleiten.

Doch nutzen wir die Zeit, um innezuhalten und uns auf unsere innere Stimme zu richten.

Ankommen im eigenen Leben, wissen, dass alles zu seiner Zeit kommt....

Das Märchen des Monats würde noch etwas besser in den Dezember passen (natürlich nur wegen des Julfestes und des Woden...alles andere ist zeitlos...).

Da aber der letzte Monat übergangen wurde erlaube ich mir, es hier zu platzieren.

Leider habe ich keine Ahnung mehr, woher ich dieses Märchen habe.

Daher kann ich auch keinen Verweis auf die Quelle machen.

Irgendwo in den tiefen des Internets habe ich es damals gefunden....wer näheres weiss, bitte bei mir melden!

 

 

 

Alles zu seiner Zeit

 

Die Göttin saß tief unten im Herzen der Erde am Feuer und wärmte ihre kraftvollen alten Hände an den lodernden Flammen von Lava und Glut.

Lächelnd murmelte sie leise Worte der Magie und des Zaubers vor sich hin.

 

Nur wenige versteckte Pfade reichen bis in ihr Zuhause, in die Tiefen der Berge, zum Mittelpunkt der Erde. 

Es ist nicht leicht zu ihr zu gelangen und wenig Besuch bekam sie um diese Zeit. 

Nur die Wurzeln der ältesten und weisesten Bäume waren durch die harte Kruste der Erde bis zu ihren Höhlen hinab gewachsen.

Die stärksten Wurzeln schlangen sich liebevoll um das Feuer der Göttin und hielten es sacht und fest.

Das Feuer pochte und glimmte wie ein schlagendes Herz.

Die Bäume schliefen und träumten.

Manchmal wenn man ganz still war, konnte man sie leise im Schlaf wispern hören: "Frau Holle, schick uns Schnee. Welke Blätter bedecken unsere Wurzeln, aber es ist so bitterkalt. Uns friert. Die Vöglein kuscheln sich zitternd an unsere Astkronen.

Die Mäuschen bauen ihre Nester im Schutz unserer Wurzeln.

Schick uns deinen Schnee, Frau Holle.

Er ist so weich und bedeckt die Erde wie eine warme Decke."

 

Die Göttin lächelte und Güte strahlte aus ihrem Gesicht. "Schhh" machte sie sacht und hielt sich einen Finger an den Mund.

"Seid nicht so ungeduldig ihr Lieben.

Zuerst kommt die Zeit der Stürme.

 Wenn der Winter einzieht und alle Blätter von den Bäumen fallen, wenn alles Grün verschwindet und es kalt und dunkel wird auf unsrer Erde, dann ziehen alle Menschen und Tiere sich in ihre warmen Häuser und Höhlen zurück.

Die Samen und Naturgeister aber kommen zu mir, um bis zum nächsten Frühling zu schlafen und zu rasten."

 

Und wirklich.

Wohl behütet, sicher und geborgen schliefen alle Geschöpfe im warmen Schoss der Göttin, während die Winterstürme über die Erde fegten.

Frau Holle sang mit ihrer tiefen vollen Stimme Baumfeen, Wurzelkinder, Blumenelfen und Igelbabys in den Schlaf und erzählte ihnen davon, was oben auf der Erde vor sich ging: 

"Hört ihr wie es grummelt und grollt? Wie der Wind jammert und tobt? Mein lieber Gefährte der Wode und seine wilden Jäger mit ihren stürmischen Himmelsponys, jagen über den Himmel.

Sie jauchzen und heulen und treiben den Wind an.

Es macht ihnen Spaß alles durcheinander zu wirbeln.

Sie treiben die Wolken übers Land und locken die Nebelschwaden aus der Erde.

Sie tanzen und hüllen alles mit meinen weißen Schleiern ein. 

So ist es schon immer gewesen, meine Lieben.

Die Natur erholt sich, während ihr sicher und behütet schlummert und vom nächsten Sommer und seinen Freuden träumt.

Sie aber, die wilden Jäger, reinigen die Luft, fegen die Erde sauber, entfachen die Feuer des Julfestes und lassen das Wasser der heiligen Quellen gefrieren. Bald wird es schneien.

Und die Welt wird weiß und neu sein. Frisch und sauber für den nächsten Frühling, wenn wir alle aus unserem langen Schlaf erwachen.

Wenn die Sonne wiederkehrt und uns mit ihrem Licht und ihrer Wärme zu neuem Leben erweckt. 

Alles zu seiner Zeit.

Nun aber schlaft.

Schlaft meine Lieben.

Schlaft gut. 

Meine Kinder, meine lieben Geschöpfe, meine lieben Bäume. 

Gute Nacht."

 

November 2020

Seit langer Zeit überlege ich, was ich zu meinem Novembermärchen schreiben soll...

Da ich es IMMER noch nicht weiss, entschuldige ich mich mit dem Grund, dass mir dieses Märchen seit 4 Wochen ununterbrochen durch den Kopf geistert...

Solches sehe ich als Zeichen an, und entlasse euch ohne grosse Erklärung in die Stille des Lesens...

 

Die Sterntaler

 

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte.

Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld.

 

Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: "Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig."

Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: "Gott segne dir's," und ging weiter.

Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: "Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann."

Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm.

Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin.

Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: "Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben," und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin.

 

 

Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen.

Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.

 

Märchen der Gebrüder Grimm/www.grimmstories.com


Oktober 2020

 

Der Tod ist gross.

Wir sind die Seinen lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.

Rainer Maria Rilke

 

Die Vergänglichkeit schleicht sich wieder ein. Spürbar an jedem trüben Herbsttag. 

Die Blätter verfärben sich und fallen zu Boden. Die Vogelschwärme sammeln sich, um in wärmere Regionen aufzubrechen.

Die Dunkelheit nimmt täglich zu.

Ich muss aufpassen, dass sie sich nicht auch in meinem Kopf festsetzt.

 Eine wunderschöne Zeit des Wandels, die uns jedoch auch unsere Vergänglichkeit vergegenwärtigt.

Im Loslassen das schöne und hoffnungsvolle sehen.

Dankbar sein für alles was war und für alle die waren...

Ein etwas melancholischer Einstieg, ich weiss, in ein wunderschönes Inuit Märchen... 

 

 

Die Skelettfrau

 

Jahre vergingen, bis sich niemand mehr daran erinnern konnte, gegen welches Gesetz das arme Mädchen verstossen hatte.

Die Leute wussten nur noch, dass ihr Vater sie zur Strafe von einem Felsvorsprung ins Eismeer hinabgestossen hatte und dass sie ertrunken war.

So lag sie für eine lange Zeit am Meeresboden.

Die Fische nagten ihr Fleisch bis auf die Knochen ab und frassen ihre kohlschwarzen Augen.

Blicklos und fleischlos schwebte sie unter den Eisschollen, und ihr Gerippe wurde von der Strömung um- und um- und umgedreht.

Die Fischer und Jäger der Gegend hielten sich fern von der Bucht, denn es hiess, dass der Geist der Skelettfrau dort umginge.

Doch eines Tages kam ein junger Fischer aus einer fernen Gegend hergezogen, der nichts davon wusste.

Er ruderte seinen Kajak in die Bucht, warf seine Angel aus und wartete.

Er ahnte ja nicht, dass der Haken seiner Angel sich sogleich in den Rippen des Skeletts verfing!

Schon fühlte er den Zug des Gewichts und dachte voll Freude bei sich:" Oh, welch ein Glück! Jetzt habe ich einen Riesenfisch an der Angel, von dem ich mich für lange Zeit ernähren kann. Nun muss ich nicht mehr jeden Tag auf die Jagd gehen."

Das Skelett bäumte sich wie wild unter dem Wasser auf und versuchte freizukommen, aber je mehr es sich aufbäumte und wehrte, umso unentrinnbarer verstrickte es sich in der langen Angelleine des ahnungslosen Fischers.

Das Boot schwankte bedrohlich im aufgewühlten Meer, fast wäre der Fischer über Bord gegangen, aber er zog mit aller Kraft an seiner Angel, er zog und liess nicht los und hievte das Skelett aus dem Meer empor.

"Iii, aiii", schrie der Mann, und sein Herz rutschte ihm in die Hose hinunter, als er sah, was dort zappelnd an seiner Leine hing.

"Aiii", und "Igitt", schrie er beim Anblick der klappernden, mit Muscheln und allerlei Getier bewachsenen Skelettgestalt.

Er versetzte dem Scheusal einen Hieb mit seinem Paddel und ruderte, so schnell er es im wilden Wasser vermochte, an das Meeresufer.

Aber das Skelett hing weiterhin an seiner Angelleine, und da der Fischer seine kostbare Angel nicht loslassen wollte, folgte ihm das Skelett, wohin er auch rannte.

Über das Eis und den Schnee; über Erhebungen und durch Vertiefungen folgte ihm die Skelettfrau mit ihrem entsetzlich klappernden Totengebein.

"Weg mit dir!", schrie der Fischer und rannte in seiner Angst geradewegs über einige frische Fische, die jemand dort zum trocknen in die Sonne gelegt hatte.

Die Skelettfrau packte ein paar dieser Fische, während sie hinter dem Mann hergeschleift wurde, und steckte sie in den Mund, denn sie hatte lange keine Menschenspeisen mehr zu sich genommen.

Und dann war der Fischer bei seinem Iglu angekommen.

In Windeseile kroch er in sein Schneehaus hinein und sank auf das Nachtlager, wo er sich keuchend und stöhnend von dem Schrecken erholte und den Göttern dankte, dass er dem Verderben noch einmal entronnen war.

Im Iglu herrschte vollkommene Finsternis, und so kann man sich vorstellen, was der Fischer empfand, als er seine Öllampe anzündete und nicht weit von sich, in einer Ecke der Hütte, einen völlig durcheinander geratenen Knochenhaufen liegen sah.

Ein Knie der Skelettfrau steckte in den Rippen ihres Brustkorbs, das andere Bein war um ihre Schultern verdreht, und so lag sie da, in seine Angelrute verstrickt.

Was dann über ihn kam und ihn veranlasste, die Knochen zu entwirren und alles vorsichtig an die rechte Stelle zu rücken, wusste der Fischer selbst nicht.

Vielleicht lag es an der Einsamkeit seiner langen Nächte, und vielleicht war es auch nur das warme Licht seiner Öllampe, in dem der Totenkopf nicht mehr ganz so grässlich aussah - aber der Fischer empfand plötzlich Mitleid mit dem Gerippe.

"Na, na, na", murmelte er leise vor sich hin und verbrachte die halbe Nacht damit, alle Knochen der Skelettfrau behutsam zu entwirren, sie ordentlich zurechtzurücken und sie schliesslich in warme Felle zu kleiden, damit sie nicht fror.

Danach schlief der Gute ein, und während er dalag und träumte, rann eine helle Träne über seine Wange.

Dies aber sah die Skelettfrau und kroch heimlich an seine Seite, brachte ihren Mund an die Wange des Mannes und trank die eine Träne, die für sie wie ein Strom war, dessen Wasser den Durst eines ganzen Lebens löscht.

Sie trank und trank, bis ihr Durst gestillt war und dann ergriff sie das Herz des Mannes, das ebenmässig und ruhig in seiner Brust klopfte.

Sie ergriff das Herz, trommelte mit ihren kalten Knochenhänden darauf und sang ein Lied dazu.

"Oh Fleisch, Fleisch, Fleisch", sang die Skelettfrau.

"Oh Haut, Haut, Haut".

Und je länger sie sang, desto mehr Fleisch und Haut legte sich auf ihre Knochen. 

Sie sang für alles, was ihr Körper brauchte, für einen dichten Haarschopf und kohlschwarze Augen, eine gute Nase und feine Ohren, für breite Hüften, starke Hände, viele Fettpolster überall und warme, grosse Brüste.

Und als sie damit fertig war, sang sie die Kleider des Mannes von seinem Leib und kroch zu ihm unter die Decke.

Sie gab ihm die mächtige Trommel seines Herzens zurück und schmiegte sich an ihn, Haut an lebendige Haut.

So erwachten die beiden, eng umschlungen, fest aneinandergeklammert.

Die Leute sagen, dass die beiden von diesem Tag an nie Mangel leiden mussten, weil sie von den Freunden der Frau im Wasser, den Geschöpfen des Meeres, ernährt und beschützt wurden.

So sagt man bei uns, und viele unserer Leute glauben es heute noch.

 

Märchen der Inuit / Aus C.P. Estés, Die Wolfsfrau, Heyne Verlag

 

 


 

September 2020

 

Oh ja....seit einigen Tagen riecht es nach Herbst. 

Eine wunderbare Jahreszeit, wie ich finde.

Satte Farben, Erntezeit, Überfluss...

Ohne schlechtes Gewissen kann man langsam die Herbstdeko hervorholen und...... 

Bei mir heisst das, dass die (meist) blauen Muschel, Sand, Strandsachen in Kisten verschwinden um den natürlich erdigen Sachen Platz zu machen.

Stoffen, Kränzen, Ästen, Früchten und vor allem Kerzen.

Alles bekommt einen...etwas nordischen Touch.....

Vielleicht darum schon mal ein Isländisches Märchen zum einstimmen?

 

Probiert es aus....

 

 

Lini, der Königssohn

 

Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reiche. Er hieß Ring, aber wie sie hieß, wird nicht erwähnt.

Sie hatten einen Sohn, der Lini hieß.

Früh schon schien er mächtig und ein großer Kämpfer.

Im gleichen Land lebte ein alter Mann mit seinem alten Weib in einer schlechten Hütte, sie hatten eine Tochter, die Signy hieß.

Eines Tages ging der Königssohn mit den Hofleuten seines Vaters auf die Jagd.

Wie sie abends wieder heim wollten, fiel dichter Nebel, und die Hofleute verloren den Königssohn.

Sie suchten lange nach ihm, konnten ihn aber nicht finden.

So kehrten ohne ihn heim und erzählten es dem König.

Der König war sehr betrübt und ließ viele Leute drei Tage hindurch nach seinem Sohne suchen, aber immer vergebens.

Da wurde der König vor Kummer so krank, dass er sich zu Bett legte.

Er ließ verkünden: „Wer mir meinen Sohn wiederbringt, bekommt das halbe Königreich.“

Davon hörte auch Signy.

Sie ließ sich von ihren Eltern Proviant und neue Schuhe geben und machte sich auf den Weg.

Nach mehreren Tagen kam sie zu einer Höhle, sie ging in dieselbe hinein und sah darin zwei Betten.

Das eine hatte eine silberdurchwobene, das andere eine golddurchwobene Decke.

Sie sah sich nun besser um und entdeckte, dass der Königssohn in dem Bette lag, über welches die golddurchwobene Decke gebreitet war.

Sie wollte ihn wecken, aber es gelang ihr nicht.

Da bemerkte sie, dass einige Runen in das Bettgestell eingeritzt waren, konnte dieselben aber nicht deuten.

Das Mädchen versteckte sich am Eingang hinter der Tür.

Sie war kaum in das Versteck gekommen, da wurde auch schon von draußen ein starkes Dröhnen laut, und zwei ungeheure Riesinnen kamen herein. 

Die eine von ihnen sagte sogleich: „Pfui der Teufel, hier ist Menschengeruch.“

Die andere meinte, das komme von dem Königssohn.

Hierauf gingen sie zu dem Bette, in welchem der Königssohn schlief, riefen zwei Schwäne herbei und sagten zu denselben:

 

„Singet, singet, meine Schwäne,

Dass Lini erwache!“

 

Da sangen die Schwäne, und Lini erwachte.

Die jüngere Riesin fragte ihn, ob er essen wolle. Er sagte: „Nein.“

Dann fragte sie ihn, ob er sie nicht zum Weibe haben wolle. Er sagte standhaft: „Nein.“

Da schrie sie auf und sagte zu den Schwänen:

 

„Singet, singet, meine Schwäne,

Dass Lini einschlafe!“

 

Die Schwäne sangen, und er schlief ein. Dann legten sie sich selber in das Bett mit der Silberdecke und schliefen die Nacht hindurch.

Am Morgen weckten sie Lini und boten ihm Speisen an; aber er wollte nicht davon essen.

Darauf fragte ihn die Jüngere, ob er sie nicht zum Weibe haben wolle, aber er verneinte das wie vorher.

Da schläferten sie ihn wieder auf dieselbe Weise ein und verließen die Höhle.

Als sie ein Weilchen weg waren, kam Signy aus ihrem Versteck und weckte den Königssohn, so wie sie es von den Riesinnen gelernt hatte.

Sie begrüßten sich freundlich, und Signy erzählte ihm von dem Schmerz seines Vaters um ihn.

Dann fragte sie, was mit ihm geschehen sei.

Er erzählte ihr, dass er kurz nach der Trennung von dem Hofgesinde zwei Riesinnen begegnet und in ihre Höhle mitgenommen worden sei.

Die eine habe ihn zwingen wollen, sie zu heiraten, wie sie ja wisse; er aber habe es immer verweigert.

„Nun sollst du“, sagte Signy, „wenn die Riesin dich heute Abend wieder fragt, ob du sie zu Weibe haben willst, deine Einwilligung geben unter der Bedingung, dass sie dir sagen, was auf den Betten geschrieben stehe und was sie den Tag über treiben.“

Das schien dem Königssohn ein vorzüglicher Rat zu sein. Dann brachte er ein Spielbrett und sie spielten Schach bis zum Abend. Als es dunkel ward, schläferte Signy den Königssohn wieder ein und begab sich wieder in ihr Versteck.

Bald hörte sie die Riesinnen herbeikommen.

Sie zündeten ein Feuer an.

Die ältere begann die Vögel zuzubereiten, welche sie mitgebracht hatten.

Die jüngere ging zum Bette, weckte Lini und fragte ihn, ob er essen wolle.

Er antwortete diesmal: „Ja.“

Als er mit der Mahlzeit fertig war, fragte sie ihn, ob er sie nicht heiraten wolle. „Ja, wenn du mir verrätst, was auf dem Bette steht.“

Sie antwortete:

 

„Renne, renne, mein Bett,

Renne, wohin ich will.“

 

Nun wollte er noch wissen, was sie tagsüber im Walde trieben.

Die Riesin erzählte ihm, dass sie Tiere und Vögel jagen.

Wenn sie aber dazwischen eine kleine Frist haben, sich unter einer Eiche niedersetzen und einander ihr Lebensei zuwerfen.

Er fragte, ob sie damit vorsichtig umgehen müssten.

Die Riesin sagte, dass das Ei nicht zerbrochen werden dürfe, sonst müssten sie beide sterben.

Der Königssohn gab sich damit zufrieden, sagte aber, nun wolle er noch bis morgen ruhen.

Die Riesin war damit einverstanden und schläferte ihn ein.

Des Morgens weckte sie ihn und bot ihm Speisen an, welche er dankbar annahm.

Dann fragte ihn die Riesin, ob er nicht heute mit ihnen in den Wald kommen wolle.

Er aber antwortete, dass er lieber zu Hause bleibe.

Hierauf nahm die Riesin von ihm Abschied und schläferte ihn ein.

Nun verliessen die beiden Weiber die Höhle.

Nach einer Weile trat Signy zum Bett, weckte den Königssohn und bat ihn aufzustehen.

„Wir werden jetzt“, sagte sie, „in den Wald hinausgehen, dahin, wo die Riesinnen sind. Nimm deinen Speer mit dir.Und sowie sie anfangen, einander ihr Lebensei zuzuwerfen, musst du den Speer nach dem Ei werfen. Aber du musst es treffen, dein Leben hängt davon ab.“

Dem Königssohn schien das ein guter Rat zu sein, und sie stiegen nun beide in das Bett und sprachen:

 

Renne, renne, mein Bettchen,

Hinaus in den Wald.

 

Da rannte das Bett mit ihnen davon in den Wald und machte erst an der Eiche halt.

Da hörten sie lautes Lachen. Signy bat nun den Königssohn auf die Eiche hinauf zu klettern, und er tat es auch.

Da sah er die beiden Riesinnen unter der Eiche sitzen.

Die eine von ihnen hatte ein goldenes Ei in der Hand und warf es der anderen zu.

Er warf seinen Spieß und traf das Ei im Flug, dass es zerbrach.

Gleichzeitig sanken auch die Riesinnen tot zu Boden und Geifer trat ihnen aus dem Munde.

Lini  stieg nun sogleich von der Eiche herab und fuhr mit Signy im Bett auf dieselbe Weise in die Höhle zurück, wie sie gekommen waren.

Sie nahmen alle Kostbarkeiten der Riesinnen, welche sich in der Höhle befanden und beluden damit beide Betten.

Sodann bestiegen sie je ein Bett und sprachen die Bettrunen, worauf die Betten mit ihnen und allen Kostbarkeiten, zur Hütte der alten Leute rannten, wo sie mit Freuden empfangen wurden.

Frühmorgens ging Signy zum König, trat vor ihn hin und begrüsste ihn.

Der König fragte, wer sie sei.

Sie sagte, dass sie die Tochter de alten Mannes von der kleinen Hütte sei, und fragte, welche Belohnung er ihr geben würde, wenn sie seinen Sohn wohlbehalten zurückbringen könne.

Der König sagte, dass er darauf nicht zu antworten brauche, da sie ihn gewiss nicht finden werde, nachdem dies keinem von seinen Leuten gelungen sei.

Signy fragte weiter, ob er ihr nicht dieselbe Belohnung geben wolle, die er den anderen versprochen habe, falls sie ihn doch fände.

Der König gab sich einverstanden.

Signy kehrte hierauf in die Hütte zurück und bat den Königssohn, ihr nach der Halle des Königs zu folgen.

Der König emping seinen Sohn mit Freuden und liess ihn alle seine Erlebnisse zu erzählen von dem Tage an, wo ihn die Hofleute auf der Jagd verloren hatten.

Lini erzählte die Geschichte, wie sie sich ereignet hatte, und dass Signy ihm das Leben gerettet hatte, da sie ihn aus den Händen der Riesinnen befreite.

Sodann stand Lini auf, trat vor seinen Vater hin und bat ihn, zu erlauben, dass er dieses Mädchen zu seinem Weibe nehme.

Der König gab mit Freuden seine Einwilligung dazu und liess sogleich ein grosses Hochzeitsfest veranstalten.

 

Der Königssohn und Signy lebten lange zusammen und liebten einander sehr.

Damit schließt diese Geschichte.

 

Isländisches Märchen

 

 

 

 

 

 



Juli 2020

Sommer, Sonne, Ferienzeit.

Doch dieses Jahr gibt es keine Ferien ausserhalb der Schweiz.

Grundsätzlich ist dies nicht tragisch, doch gebe ich zu, dass ich, immer wenn ich die Augen schliesse, ein leises Meeresrauschen höre.

Da ist es nicht weiter erstaunlich, dass das Julimärchen etwas mit dem Meer zu tun hat....

 

Warum das Meerwasser salzig ist

 

Es war einmal ein lieber, wackerer Knabe, der hatte weiter nichts auf Erden als eine blinde Großmutter und ein helles Gewissen.

Als er nun aus der Schule war, wurde er Schiffsjunge und sollte seine erste Reise antreten.

Da sah er, wie alle seine neuen Kameraden mit blankem Gelde spielten, und er hatte nichts, auch nicht den geringsten Mutterpfennig.

Darüber war er traurig und klagte es der Großmutter.

Sie besann sich erst ein Weilchen, dann humpelte sie in ihre Kammer, holte eine kleine, alte Mühle heraus, schenkte sie dem Knaben und sprach: »Wenn du zu dieser Mühle sagst: Mühle, Mühle, mahle mir rote Dukaten gleich allhier! so mahlt sie dir lauter Dukaten, soviel du begehrst; und wenn du sprichst: Mühle, Mühle, stehe still, weil ich nichts mehr haben will, so hört sie auf zu mahlen; und so kannst du dir alle Dinge, die du nur wünschest, von der Mühle mahlen lassen. Sag aber nichts davon, sonst ist es dein Unglück!«

Der Junge bedankte sich, nahm Abschied und ging aufs Schiff.

Als nun die Kameraden wieder mit ihrem blanken Gelde spielten, stellte er sich mit seiner Mühle in einen düstern Winkel und sprach: »Mühle, Mühle, mahle mir rote Dukaten gleich allhier!«

Da mahlte die Mühle lauter rote Dukaten, die fielen klingend in seine lederne Mütze.

Und als die Mütze voll war, sprach er nur: »Mühle, Mühle, stehe still, weil ich nichts mehr haben will!«

Da hörte sie auf zu mahlen.

Nun war er von allen Kameraden der reichste; und wenn es ihnen an Speise fehlte, wie es wohl manchmal geschah, da der Schiffshauptmann sehr geizig war, sprach er nur: »Mühle, Mühle, mahle mir frische Semmeln gleich allhier!« so mahlte sie so lange, bis er das andere Sprüchlein aufsagte; und was er auch sonst noch begehrte, alles mahlte die kleine Mühle.

Nun fragten ihn die Kameraden wohl oft, woher er die schönen Sachen bekomme; doch da er sagte, er dürfe es nicht sagen, drangen sie nicht weiter in ihn, zumal er alles ehrlich mit ihnen teilte.

Es dauerte aber nicht lange, da bekam der böse Schiffshauptmann Wind davon, und eines Abends rief er den Schiffsjungen in die Kajüte und sprach: »Hole deine Mühle und mahle mir frische Hühner!«

Der Knabe ging und brachte einen Korb frischer Hühner.

Damit jedoch war der gottlose Mensch nicht zufrieden: er schlug den armen Jungen so lange, bis dieser ihm die Mühle holte und ihm sagte, was er sprechen müsse, wenn sie mahlen solle; den andern Spruch aber, den man sagen musste, wenn sie aufhören sollte, lehrte er ihn nicht, und der Schiffshauptmann dachte auch nicht daran, ihn danach zu fragen.  

Als der Junge nachher allein auf dem Verdeck stand, ging der Hauptmann zu ihm und stieß ihn ins Meer und dachte nicht daran, wie viel Sorge und Mühe er Vater und Mutter gemacht hatte und wie die blinde Großmutter auf seine Rückkehr hoffte.

An all dies dachte er nicht, sondern stieß ihn ins Meer und sagte, er sei verunglückt, und meinte, damit sei alles abgetan.

Hierauf ging er in seine Kajüte, und da es eben an Salz fehlte, sagte er zu der kleinen Mühle: »Mühle, Mühle, mahle mir weiße Salzkörner gleich allhier!« Da mahlte sie lauter weiße Salzkörner. Als aber der Napf voll war, sprach der Schiffshauptmann: »Nun ist's genug!«

Doch sie mahlte immerzu, und er mochte sagen, was er wollte, sie mahlte immerzu, bis die ganze Kajüte voll war.

Da fasste er die Mühle an, um sie über Bord zu werfen, erhielt aber einen solchen Schlag, dass er betäubt zu Boden fiel.

Und nun mahlte sie immerzu, bis das ganze Schiff voll war und zu sinken begann, und nie ist größere Not auf einem Schiff gewesen.

Zuletzt fasste der Schiffshauptmann sein gutes Schwert und hieb die Mühle in lauter kleine Stücke; aber siehe! aus jedem kleinen Stück wurde eine kleine Mühle, gerade wie die alte gewesen war, und alle Mühlen mahlten lauter weiße Salzkörner.

Da war's bald um das Schiff geschehen: es sank unter mit Mann und Maus und allen Mühlen.

Die aber mahlen unten am Grunde noch immerzu lauter weiße Salzkörner, und wenn du ihnen nun auch den rechten Spruch zuriefest, sie stehen so tief, dass sie es nicht hören würden. Sieh, davon ist das Meerwasser so salzig.

 

Märchen Hannover / www.sagen.at

 

 

 


Juni 2020

Die letzten Wochen haben viele Gedanken ausgelöst.

Was ist in meinem Leben wirklich wichtig? Ohne was kann ich nicht existieren?

Viele Zweifel haben an mir genagt.

Vieles unwichtige ist abgefallen, verblasst.

Dinge, die man für unentbehrlich hielt, sind ohne grosse Mühe entbehrlich geworden.

Ein Märchen, welches die Endlichkeit von solchen Dingen zeigt, heisst "Salz ist wertvoller als Gold".

Von diesem Märchen existieren, wie bei vielen anderen auch (wenn nicht sogar allen), verschiedene Versionen.

Am meisten angetan hat es mir die slowakische.

Wenn es euch gefällt, googelt doch mal nach anderen Versionen.

Es kann durchaus kurzweilig sein....

 

 


Mai 2020

Nach einem Monat Pause, nun endlich ein neues Märchen auf meiner Liste.

Eine sehr seltsame Zeit liegt hinter uns und ist noch immer am wirken.

Viel alltägliches wurde umgekrempelt, verändert.

Wohl oder übel mussten wir uns hineinschicken.

Für die einen war es einfacher, für andere wurde es schwer und ist es immer noch. 

Ungewiss, was noch kommen mag.

Irgendwo habe ich gelesen "Wenn man nicht nach aussen gehen kann, kann man nach innen gehen"

Sich mit sich selber auseinandersetzen, mit seinem inneren. Nicht nur eine leichte Aufgabe.

Doch, zumindest ich, betrachte es als wertvolle Zeit.

Wann, wenn nicht jetzt, haben wir so viel "geschenkte" Zeit.

Viele werden mit ihren Ängsten konfrontiert.

Andere sind mit sich selber überfordert.

Und doch birgt diese Zeit eine grosse Hoffnung auf Neuanfänge. Wie auch immer diese aussehen mögen.

Warscheinlich ist auch darum das Mai Märchen ein seltsames Märchen.

Ich hoffe, euch mit diesem Märchen etwas andere Gedanken auszulösen.

Oder zumindest ein schmunzeln...

 

 

Das seltsamste Ding der Welt

 

Es war einmal ein König. Der war Witwer und hatte drei Söhne.

Und in einem andern Reich lebte eine Königin, die war Witwe und hatte eine sehr schöne Tochter.

Und der König und die Königin lernten einander kennen und heirateten sich.

Und da die Tochter der Königin fast ebenso alt war wie die drei Söhne des Königs, verliebten sich alle drei in sie und wollten sie heiraten.

Da gingen die drei zu ihrem Vater, und der älteste sagte zu ihm: »Hört, lieber Vater, wir möchten alle drei unsere Stiefschwester heiraten, und da es doch nicht angeht, dass sie sich mit dreien verheiratet, so bitten wir euch, Ihr möchtet entscheiden, wer von uns sie heiraten soll. Mit dem, was Ihr sagt, werden wir uns zufrieden geben.«

Und der Vater sagte zu ihnen: »Meine Söhne, es ist eure Stiefschwester, und da scheint mir, keiner sollte sich mit ihr verheiraten, aber da ihr es trotzdem wollt, so macht euch auf den Weg und seht zu, dass Ihr mir das seltsamste Ding der Welt bringt, und wer von euch damit zurückkommt, der mag sie haben.« Nun gut: die drei Brüder zogen in die Welt hinaus und machten sich auf die Suche nach dem seltsamsten Ding.

Und als sie an eine Wegkreuzung kamen, schlug jeder eine andere Richtung ein.

Und der Älteste kam in eine große Stadt und begann sogleich, überall herumzusuchen.

Als er schon den ganzen Markt und alle Plätze nach dem seltsamsten Ding abgesucht hatte, fand er plötzlich einen Teppich, der hatte eine Sprungfeder. Wenn man darauf stieg, ging die Feder los, und man konnte so hoch fliegen, wie man wollte.

Und er sagte zu dem, der ihn verkaufte: »Wie viel wollt Ihr für diesen Teppich haben?«

Der antwortete ihm, dass er tausend Taler koste.

Da gab er ihm die tausend Taler und ging mit dem Teppich fort.

Nun gut; indessen war der zweite in ein Dorf gekommen, wo ein Mann war, der verkaufte ein Fernrohr von einer halben Ellenlänge.

Und er geht zu ihm hin und sagt: »Lieber Mann, ich suche überall ein sehr seltsames Ding. Sagt mir, was verkauft Ihr?«

Und er antwortete ihm: »Nehmt dieses Fernrohr und schaut hindurch. Was wollt Ihr sehen?«

»Meinen Bruder.« Und der Jüngling blickte durch das Fernrohr und sah seinen Bruder mit dem Teppich dahin wandern.

Nun gut. Da sagte er zu dem Händler: »Wie viel wollt Ihr für das Fernrohr haben?«

»Nun ja. Mit tausend Talern gebe ich mich zufrieden.« - Da gab er ihm die tausend Taler und zog mit dem Fernrohr ab.

Inzwischen hatte der dritte auch eine Stadt erreicht und suchte ebenfalls auf dem Markt und allen Plätzen nach einem sehr seltsamen Ding.

Und da sah er auf einem Platz einen alten Mann, der Äpfel feilbot und dabei sagte: »Äpfel, gute Äpfel, die Kranke heilen !«

Der Jüngling ging zu ihm hin und fragte: »Was ist denn Besonderes an diesen Äpfeln?«

»Diese Äpfel können Kranke wieder gesund machen, wenn man ihnen damit über das Gesicht streicht, so dass sie den Apfel riechen.«

Darauf sagt der Jüngling: »Gut, so einen Apfel will ich kaufen und ihn nach Hause bringen. Wie viel wollt Ihr für den Apfel haben?«

»Tausend Taler«, antwortete ihm der andere.

Da gibt er ihm die tausend Taler und geht mit dem Apfel fort.

Auf der Reise nach Hause bekam der Bruder mit dem Fernrohr plötzlich Lust, seine Brüder zu sehen.

Er blickte hindurch und fand den Ältesten. Und er wanderte zu ihm hin und sagte: »Weißt du, wo unser jüngster Bruder ist?«

»Da nimm das Fernrohr und guck hindurch.«

Der andere tat es und erkannte den jüngsten Bruder, der allein seines Weges zog.

Und da sagte der Älteste: »Dies Fernrohr willst du wohl dem Vater bringen?«

Und der zweite sagt: »Ja, das will ich.«

»Nun sieh her, ich bringe ihm ein sehr viel seltsameres Ding mit. Sieh diesen Teppich hier. Sowie man ihn betritt, steigt er hoch und fliegt so hoch, wie man will und wohin man will.«

Der zweite sagt darauf zu ihm: »Gut, das wollen wir gleich einmal sehen.«

Und sie stellten sich darauf, und sofort stieg der Teppich mit den beiden in die Höhe.

Und sie flogen in den Ort, wo sie den jüngsten Bruder im Fernrohr entdeckt hatten.

Nun waren alle beisammen.

Und sie fragten den Jüngsten, was er gekauft habe.

Und der erzählte: »Ich habe hier einen Apfel gekauft; wenn man damit über das Gesicht eines Kranken streicht, so dass er ihn riecht, wird er auf der Stelle wieder gesund.«

Nun gut! Dann traten sie alle drei auf den Teppich, und die Feder ging los, und die drei flogen ganz, ganz hoch.

Und nachdem sie so einige Zeit geflogen waren, nahm der Jüngste das Fernrohr seines Bruders und sah hindurch und sagte: »O weh, was sehe ich? Die Stiefschwester liegt sterbenskrank im Bett.«

Da sagt der Jüngste: »Lass uns schnell machen.«

Und so schnell sie können, fliegen sie mit dem Teppich nach Haus.

Sie traten ein, als das Mädchen schon in den letzten Zügen lag.

Der Jüngste geht mit seinem Apfel zu ihr hin und lässt sie daran riechen.

Im Augenblick wird ihr wohler, und nach einigen Tagen ist sie ganz gesund.

Da gehen die drei zu ihrem Vater und zeigen ihm, was jeder mitgebracht hat.

Und der Jüngste sagt: »Vater, ich werde sie bekommen; denn der Apfel, den ich mitgebracht habe, hat sie gesund gemacht.«

Und der zweite sagt: »Nein, ich werde sie bekommen, denn ohne das Fernrohr hätten wir nicht gewusst, dass sie krank war.«

Der Älteste sagt: »Aber nein, ohne den Teppich waren wir niemals rechtzeitig gekommen, darum muss ich sie haben.«

Und der Vater denkt eine Weile nach und sagt dann:,»Meine Söhne, mir scheint, der mit dem Fernrohr hat das größte Verdienst.« Darauf schweigen die beiden andern, und der Vater geht zur Stieftochter und sagt ihr dasselbe.

Und das Mädchen meint: »Mir aber scheint, dem mit dem Apfel gebührt das größte Verdienst. Ihn habe ich von jeher am liebsten gehabt, und mit ihm möchte ich mich verheiraten.«

Und so verheiratete sie sich mit dem jüngsten Bruder.

Nun gut! Hätte sie das gleich von vornherein gesagt, wäre die ganze Geschichte nicht nötig gewesen, und ich hätte das Märchen nicht erzählen müssen.

 

Märchen aus Spanien / hekaya.de


März 2020

 

Der standhafte Zinnsoldat

 

Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die waren alle Brüder, denn sie waren aus einem alten zinnernen Löffel gemacht worden.

Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht geradeaus; rot und blau, überaus herrlich war die Uniform; das allererste, was sie in dieser Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort "Zinnsoldaten!"

Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie erhalten, denn es war sein Geburtstag, und er stellte sie nun auf dem Tische auf.

Der eine Soldat glich dem andern leibhaft, nur ein einziger war etwas anders; er hatte nur ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden, und da war nicht mehr Zinn genug da; doch stand er ebenso fest auf seinem einen Bein wie die andern auf ihren zweien, und gerade er war es, der sich bemerkbar machte.

Auf dem Tisch, auf dem sie aufgestellt wurden, stand vieles andere Spielzeug; aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloss von Papier; durch die kleinen Fenster konnte man gerade in die Säle hineinsehen.

Draußen vor ihm standen kleine Bäume rings um einem kleinen Spiegel, der wie ein kleiner See aussehen sollte. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich.

Das war alles niedlich, aber das niedlichste war doch ein kleines Mädchen, das mitten in der offenen Schlosstür stand; sie war auch aus Papier ausgeschnitten, aber sie hatte ein schönes Kleid und ein kleines, schmales, blaues Band über den Schultern, gerade wie ein Schärpe; mitten in diesem saß ein glänzender Stern, gerade so groß wir ihr Gesicht.

Das kleine Mädchen streckte seine beiden Arme aus, denn es war eine Tänzerin, und dann hob es das eine Bein so hoch empor, dass der Zinnsoldat es durchaus nicht finden konnte und glaubte, dass es gerade wie er nur ein Bein habe.

"Das wäre eine Frau für mich.", dachte er. "Aber sie ist etwas vornehm, sie wohnt in einem Schlosse, ich habe nur eine Schachtel, und da sind wir fünfundzwanzig darin, das ist kein Ort für sie, doch ich muss suchen, Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen!"

Und dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabaksdose, die auf dem Tische stand.

Da konnte er recht die kleine, feine Dame betrachten, die fortfuhr auf einem Bein zu stehen, ohne umzufallen.

Als es Abend wurde, kamen alle die andern Zinnsoldaten in ihre Schachtel, und die Leute im Hause gingen zu Bette.

Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl "Es kommt Besuch!" als auch "Krieg führen" und "Ball geben"; die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht aufheben.

Der Nussknacker schoss Purzelbäume, und der Griffel belustigte sich auf der Tafel; es war ein Lärm, dass der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen.

Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf der Zehenspitze und beide Arme ausgestreckt; er war ebenso standhaft auf seinem einen Bein; seine Augen wandte er keinen Augenblick von ihr weg.

Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch, da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose auf, aber da war kein Tabak darin, nein, sondern ein kleiner, schwarzer Kobold.

Das war ein Kunststück!

"Zinnsoldat" sagte der Kobold, "halte deine Augen im Zaum!" Aber der Zinnsoldat tat, als ob er es nicht hörte.

"Ja, warte nur bis morgen!" sagte der Kobold.

Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt, und war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal flog das Fenster zu, und der Soldat stürzte drei Stockwerke tief hinunter.

Das war eine erschreckliche Fahrt. Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf der Helmspitze mit dem Bajonett abwärts zwischen den Pflastersteinen stecken.

Das Dienstmädchen und der kleine Knabe kamen sogleich hinunter, um zu suchen; aber obgleich sie nahe daran waren, auf ihn zu treten, so konnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat gerufen: "Hier bin ich!", so hätten sie ihn wohl gefunden, aber er fand es nicht passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war.

Nun fing es an zu regnen; die Tropfen fielen immer dichter, es ward ein ordentlicher Platzregen; als der zu Ende war, kamen zwei Straßenjungen vorbei.

"Sieh du!" sagte der eine, "da liegt ein Zinnsoldat! Der soll hinaus und segeln!"

Sie machten ein Boot aus einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten hinein, und nun segelte er den Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände.

Was schlugen da für Wellen in dem Rinnstein, und welcher Strom war da!

Ja, der Regen hatte aber auch geströmt. Das Papierboot schaukelte auf und nieder, mitunter drehte es sich so geschwind, dass der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah geradeaus und hielt das Gewehr im Arm.

Mit einem Male trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; da wurde es gerade so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel.

"Wohin mag ich nun kommen?" dachte er. "Ja, Ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach, säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, da könnte es meinetwegen noch einmal so dunkel sein!"

Da kam plötzlich eine große Wasserratte, die unter der Rinnsteinbrücke wohnte.

"Hast du einen Pass?" fragte die Ratte. "Her mit dem Passe!"

Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt das Gewehr noch fester.

Das Boot fuhr davon und die Ratte hinterher. Hu, wie fletschte sie die Zähne und rief den Holzspänen und dem Stroh zu: "Halt auf! Halt auf! Er hat keinen Zoll bezahlt; er hat den Pass nicht gezeigt!"

Aber die Strömung wurde stärker und stärker! Der Zinnsoldat konnte schon da, wo das Brett aufhörte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte auch einen brausenden Ton, der wohl einen tapfern Mann erschrecken konnte.

Denkt nur, der Rinnstein stürzte, wo die Brücke endete, gerade hinaus in einen großen Kanal; das würde für den armen Zinnsoldaten ebenso gefährlich gewesen sein wie für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren!

Nun war er schon so nahe dabei, dass er nicht mehr anhalten konnte.

Das Boot fuhr hinaus, der Zinnsoldat hielt sich so steif, wie er konnte; niemand sollte ihm nachsagen, dass er mit den Augen blinke.

Das Boot schnurrte drei-, viermal herum und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt, es musste sinken.

Der Zinnsoldat stand bis zum Halse im Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf.

Da dachte er an die kleine, niedliche Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren das Lied:

"Fahre, fahre Kriegsmann!

Den Tod musst du erleiden!"

Nun ging das Papier entzwei, und der Zinnsoldat stürzte hindurch, wurde aber augenblicklich von einem großen Fisch verschlungen.

Wie war es dunkel da drinnen! Da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und dann war es so sehr eng; aber der Zinnsoldat war standhaft und lag, so lang er war, mit dem Gewehr im Arm.

Der Fisch fuhr umher, er machte die allerschrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still, es fuhr wie ein Blitzstrahl durch ihn hin. Das Licht schien ganz klar, und jemand rief laut: "Der Zinnsoldat!"

Der Fisch war gefangen worden, auf den Markt gebracht, verkauft und in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt.

Sie nahm mit zwei Fingern den Soldaten mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle den merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der Zinnsoldat war gar nicht stolz.

Sie stellten ihn auf den Tisch und da - wie sonderbar kann es doch in der Welt zugehen!

Der Zinnsoldat war in derselben Stube, in der er früher gewesen war, er sah dieselben Kinder, und das gleiche Spielzeug stand auf dem Tische, das herrliche Schloss mit der niedlichen, kleinen Tänzerin.

Die hielt sich noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in der Luft, sie war auch standhaft. Das rührte den Zinnsoldaten, er war nahe daran, Zinn zu weinen, aber es schickte sich nicht. Er sah sie an, aber sie sagten gar nichts.

Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte; es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war.

Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die erschrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wusste er nicht.

Die Farben waren ganz von ihm abgegangen - ob das auf der Reise geschehen oder ob der Kummer daran schuld war, konnte niemand sagen.

Er sah das kleine Mädchen an, sie blickte ihn an, und er fühlte, dass er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehre im Arm.

Da ging eine Tür auf, der Wind ergriff die Tänzerin, und sie flog, einer Sylphide gleich, gerade in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und war verschwunden.

Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern noch da, und der war kohlschwarz gebrannt.

 

Hans Christian Andersen


 

Februar 2020

 

 

Der Januar hat mein Jahresthema offenbart.

Ich weiss, dass ich immer gesagt habe, dass es klassische Märchen vorerst nicht in mein Repertoire schaffen.

Und doch zieht es mich jetzt zu den Märchen meiner Kindheit.

Mit den Augen eines Erwachsenen lese ich diese Geschichten und es zeigen sich Bilder, die längst vergessen schienen.

Sie steigen hoch und lösen eine wohlige Wärme aus.

Manche Dinge erscheinen plötzlich klar, andere benötigen etwas Zeit.

Ich nehme euch jetzt mit auf eine Reise zu meinen Wurzeln.

Zu Geschichten die "auf den zweiten Blick" hoffentlich auch euer Herz zu erwärmen vermögen wie mein eigenes.

Das Februarmärchen ist ein sehr bekanntes Märchen.

Für mich etwas besonderes ist das Bild vom....

Nein, mein Bild verrate ich nicht!

Entdeckt eures selber....

 

Dornröschen

 

Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: "Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!" und kriegten immer keins.

Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade sass, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach: "Dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen."

 

Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, dass der König vor Freude sich nicht zu lassen wusste und ein grosses Fest anstellte.

Er ladete nicht bloss seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären.

Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben.

 

Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist.

Als elfe ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüssen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: "Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen." Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie sich um und verliess den Saal.

Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie: "Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt."

 

Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, liess den Befehl ausgehen, dass alle Spindeln im ganzen Königreiche verbrannt werden.

An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, dass es jedermann, er es ansah, lieb haben musste.

Es geschah, dass an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren, und das Mädchen ganz allein im Schloss zurückblieb.

Da ging es allerorten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm.

Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen Türe.

In dem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Türe auf, und sass da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs.

 

"Guten Tag, du altes Mütterchen," sprach die Königstochter, "was machst du da?" 

"Ich spinne," sagte die Alte und nickte mit dem Kopf .

"Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?" sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen.

Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in den Finger.

In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf.

 

Und dieser Schlaf verbreite sich über das ganze Schloss: der König und die Königin, die eben heimgekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen und der ganze Hofstaat mit ihnen.

Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte, liess ihn los und schlief.

Und der Wind legt sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.

Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich das ganze Schloss umzog und darüber hinauswuchs, dass gar nichts davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf den Dach.

 

Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, also dass von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloss dringen wollten.

Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes.

 

Nach langen Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land, und hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke erzählte, es sollte ein Schloss dahinter stehen, in welchem eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen genannt, schon seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr der König und die Königin und der ganze Hofstaat.

Er wusste auch von seinem Grossvater, dass schon viele Königssöhne gekommen wären und versucht hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie wären darin hängengeblieben und eines traurigen Todes gestorben.

Da sprach der Jüngling: "Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen."

Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte.

Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte.

Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter grosse schöne Blumen, die taten sich von selbst auseinander und liessen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als Hecke zusammen.

Im Schlosshof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dach sassen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt.

Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den Jungen anpacken, und die Magd sass vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden.

 

Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lag der König und die Königin.

Da ging er noch weiter, und alles war so still, dass einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief.

Da lag es und war so schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuss.

 

Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte, und blickte ihn ganz freundlich an.

Da gingen sie zusammen herab, und der König erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat, und sahen einander mit grossen Augen an.

Und die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten; die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen; der Braten fing wieder an zu brutzeln; und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, dass er schrie; und die Magd rupfte das Huhn fertig.

 

Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.

 

 

Ein Märchen der Brüder Grimm

 

 


Januar 2020

Noch befinden wir uns mitten in den Raunächten. Die letzte Nacht die diese abschliesst ist am 6. Januar.

Die Berchtennacht.

Vorallem ich sehne mich nach dem Licht.

Darum habe ich mich auch für dieses Märchen im Januar entschieden.

Ich habe zwar schon die Erfahrung gemacht, dass manche Leute dieses Märchen als düster und traurig bezeichnen. 

"Es liegt im Auge des Betrachters", könnte man hier sagen.

Doch egal, wie es sich in ihren Augen zeigt, so hoffe ich, dass ich ihnen mit diesem Märchen doch irgendetwas für das kommende Jahr mitgeben kann....

 

Zum ersten Mal ist das Monatsmärchen in Mundart, da ich es erstens genau so erzähle und es zweitens ein einmaliger Zusammenschnitt aus mehreren Versionen dieses Märchens ist....

Nun wünsche ich....Viel Glück....fürs neue Jahr...fürs "begreifen"....und vorallem....fürs Lesen.

 

 

Die uusbloosete Liechtli

 

Aut und vom Wätter zeichnet schtooht es Buurehuus i dr Einsamkeit vo höche Bärge.

Do chunnt i jedere Dreikönigsnacht, wo i vüune Gägende ou Berchtenacht heisst, d Frou Berchta verbii.

Und d Heimeli, d Seele vo de z früech Verschtorbne und Ungeborene Ching, begleite se uf ihrere Fahrt.

Jetz isch es so Sitte, und passiert us auter Verpflichtig, dass d Autbüüri e Tisch mit Schpiis und Trank a däm Houwääg muess uufschtöue. Dört wo dr nächtlech Umzug entlang fahrt. 

D Frou Berchta leit dr Sääge über d Gaabe und über d Gäber, duet wou ou drvo choschte und bliebt de Fäuder, em Vieh und dr ganze Sippe fründlech gsinnt.

Doch es güut es schträngs Gsetz. Es darf niemer a däm Oobe us em Huus zum gwungere, oder heimlech zuelose. D Frou Berchta darf nid mit niederem Gwunger beläschtigt wärde, wenn sie sech einisch wott schterche.

A eim vo dene Ööbe, wo d Büüri wieder einisch dr Tisch i dr Schlucht mit Sorgfaut bereitet hett und grad dr Mond über em Bärgwaud uufgschtiege isch,do schliiechet die jüngschti Magd vom Huus use. Sie wird vo Zwiefu und Gwunger plooget. I dr nööchi vor Schlucht versteckt sie sech imene Houzschpiicher. Sie luegt nach däm feschtleche Tisch, wo no die bleiche Nudle druffe dampfe.

So harret sie ungeduudig us, uf das was sech äch begäbi und tritt vom einte Fuess uf e anger.

Nume wott sech do gär nüt tue.

Ke Haas springt übers Schneefäud , ke Vogu hocket i de veriiste Zwiige vor Birke, wo sech übere Tisch biege.

Es duet scho d Schtüui vom Warte zu ihre schläfere. Und si verlüürt dr Gloube a d Bricht vo dr Aute Büüri.

Do ändlech ghört si fiins Zirpe und Singe vom Bärgwaud här. Wie Liedgsang und Saiteklang.

Es chunnt nöcher, mit trippelnde Schrittli im weiche Schnee, d Schar vo de seelige Heimeli.

Voruus schriittet d Frou Berchta säuber. Und um sie ume verdichtet sech dr Mondschiin zum Glanz.

Die Chliine hange ihre a und schlüüfe unger ihre läng Mantu, wie d Bibali unger de Flügle vor Gluggere. Angeri düe zur Zithere und Giige mit süubrige Schtimmli summe und singe.

Am Ändi schleppe sech es paar vo dene Ching mit eme schwäre Pflueg, wo über d Ächer gschleift wird.

Ou Chrüegli, mit goudigem Tou gfüut, träge die Chliine. Dä schwappt drüberuus und dringt düre Schnee düre  i schlummernd Bode.

Jetz bliebt d Frou Berchta nachdänklech näbem Gaabetisch schtooh und seit zu eim vo de Ching:“ I gseh zwöi Liechtli, die si z vüu; gang und bloos se uus!“

D Magd hinger dr Türe gschpürt e chaute Aahuuch uf ihri Wimpere, und dr Mondschiin erlischt. Es stüupt sech über se, wie ne schwarze Sack.

S schöne Singe wandlet sech i Weh und Ach.

Verschrocke schtoost sie d Tür uf, doch ou dusse bliebt sie i ihrere Liechtlosigkeit. Dr  Mond isch Tot.

Do tappet sie klagend, mit Träne i de Ouge zum Hof zrugg.Sie suecht im Härd s gwohnte Lüüchte vo de Flamme.

Aber d Härdgluet bisst nume ihri Hutt und verbrönnt  ihri Wimpere, wüu dr Blick isch erlosche.

Bling isch sie und bländet wird sie bliebe.

Jetz aber läbt uf em Hof e uurauti Frou.Die isch no vo dr aute Wäut. Die sitzt zu jedere Stung am Härd, spinnt im Rouch und nimmt s Unsichtbare woohr.

D Wiisheit vo de aute Ziite isch ihre no vertrout. Und sie weiss meh vo Wächsu und Wandu aus angeri.

Jetz muess die jungi Magd vüu bi dr Aute am Härd sitze und schpinne, Flachs bräche, hächle oder süsch e Arbeit verrichte, wie se äuä ou e Blinge zämetaschtet.

Aber sie hocket schtiif und verschtocket a dr Gluet, wüu ihri jungi Seeu isch iigfroore, vor bitterem Schmärz.

Auso verharret sie über d Winterdääg i ihrem Trotz und kes Troschtwort vo dr Aute mah se erwecke.

Wo jetz aber ändlech dr Früehlig us aune Büsch bricht und s erschte Vogulied us em Bluemegarte überewäiht, do touet die jungi Seeu ou wieder uf. Und die bländeti rüeft i dr erschte Fröid “Ghörsch du Eller? So los doch, wie dä Vogu rüeft! Was er äch weiss? O, wär doch nume d Schprooch vo de Tier würd verschtooh, was möchti dä aues erfahre?“

Do lächlet die Auti und seit;" Uf das Lied hani lang gwartet. So wott i dir jetz u saute Ziite verzöue, wo d Frou Berchta no aunenorte unger de Mönsche gwürkt hett."

Si chnüpft e nöie Fade a aut und verzöut vo dr Waudfrou, dr Spinnstubemuhme, dr Herrin vom Rosegarte und dr Muetter vo de Heimeli.

Immer nöii Gschichte lockt die Jungi us der Aute use. Und sie erhäuet drmit ihres dunkle Joohr. Solang bis wieder die heilige Zwöuf chöme.

Scho duftets im Garte nach Honigchueche und süessem Gwürz, und die versunkni Sunne macht sech parat zur Wiedergeburt us em Schatte vo dr Nacht.

Hüüfig liegt s Meitschi no wach uf sim Lager und studiert über aues, wo die auti Grossmuetter verkündet hett. Sie gseht aues i Spiegle, wo drinne ihri innere Ouge göffnet si. Si läbt und liidet das aues wie ihres eigene. Und wie si jetz uselost id Nacht vo de Nächt, weiss sie, dass d Erfüuig vor dr Türe schtooht.

Wo s jetz wieder uf e Dreikünigsööbe zuegeit, seit die Auti; „Du hesch jetz glehrt, ou ohni Ouge z schaffe, bisch fliissig gse und chasch sogar wieder lache. Morn isch wieder Berchteoobe, do chunnt d Frou Berchta abermous zu ihrem Gabetisch mit de Heimeli. Und dasmou söusch du ihre dr Tisch decke, viellech dass dir die heiligi Frou wiiterhüuft.

D Sunne verschwindet i dr zwöufte Nacht. Do nimmt d Ellermuetter die blingi Magd a dr Hang, und si schtapfet mit ihre ufe a Houwääg. Dört, unger dr Birke, schlooht jetz die jungi s Tischli uf. Sie breitet wiisses Line drüber. Schtriecht s Tuech mit Sorgfaut glatt und rückt d Schüssali und Chrüeg zrächt. Us ihrne taschtende Häng chunnt dr Blinge s Büud vom Joohr vorhär ufe, wo sie bim Blick uf die Gabe i ewigi Nacht isch gheit. Us ihrne tote Ouge rinnale bitteri Träne uf das wiisse Line.

Do ghört si e Schtimm, wo se dicht über ihrne Ouge frogt;“ Dr Mond, är schiinet. Wär jammeret, wär grännet?“

„Ach“, klagt die Blingi, „ i ha d Frou Berchta mit Ouge wöue gseh, und das isch gäge ihres Gebot gse. I has nid wöue gloube und ha mis Ougeliecht verloore.“

Do seit d Frou Berchta, wüu sie isch säuber wieder choo mit ihrne Heimeli: „Das söu wouh woohr si. Vor eme Joohr, hani a dere Schtöu zwöi Ouge glöscht und drfür zwöi inneri Liechtli aazünted. So trääg jetz dopplets Gsicht, gang und vergiss s Beschte nid!“

Und während sie em Meitschi über die toote Ouge blooset, blüehit s Liecht i ihre uf mit au sine Schtärne. Und aues um sie ume isch, wie im Joohr vorhär. Dr Mond schiint ou. Dr Tisch isch unger dr glitzernde Birke isch zuebereitet, doch d Frou Berchta mit ihrne Heimeli isch scho lengscht über aui Hügle zoge. Vo wiitem wäihts nume no noche wie Gsang und lieblechs Saiteschpüu.

 

Märchen aus Deutschland

 

 


Dezember 2019

Mit grossen Schritten gehen wir auf Weihnachten zu.

Und welches Märchen passt besser zu Weihnachten, als "Der Tannenbaum" von Hans Christian Andersen.

Bei mir löste dieses Märchen den Wunsch aus, nur noch einen Baum im Topf in die Stube zu stellen....

Es ist euch überlassen, ob ihr es mir gleichtut, oder nicht.

So oder so wünsche ich euch ein märchenhaftes Eintauchen, eine besinnliche Adventszeit, wunderschöne Weihnachten und zu gegebener Zeit einen guten Rutsch!

Vielen Dank fürs Lesen und ich freue mich auf weitere märchenhafte Monate im 2020 mit euch!

 

 

Der Tannenbaum

 

 

Draußen im Wald stand ein so niedlicher Tannenbaum. Er hatte einen guten Platz, Sonne konnte er bekommen, von Luft gab es genug, und ringsherum wuchsen viele größere Kameraden, sowohl Tannen wie Fichten. Aber der kleine Tannenbaum war so erpicht auf das Wachsen, er dachte nicht an die warme Sonne und die frische Luft, er kümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die herumgingen und plauderten, wenn sie draußen waren, um Erdbeeren oder Himbeeren zu sammeln; oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll, oder sie hatten Erdbeeren auf Grashalme aufgezogen, dann setzten sie sich zu dem kleinen Baum und sagten: "Nein, wie ist er niedlich klein!" Das wollte der Baum gar nicht hören.

Im Jahr danach war er ein langes Ende höher und im Jahr danach wieder um ein noch viel längeres; denn bei einem Tannenbaum kann man immer nach der Zahl der Glieder, die er hat, sehen, wie viele Jahre er gewachsen ist.

"Oh, wäre ich doch solch ein großer Baum wie die andern!" seufzte der kleine Baum, "dann könnte ich meine Zweige so weit im Umkreis ausbreiten und mit dem Wipfel in die weite Welt hinaussehen! Die Vögel würden dann Nester zwischen meinen Zweigen bauen, und wenn der Wind wehte, könnte ich so vornehm nicken wie die andern dort!"

Er hatte gar kein Vergnügen am Sonnenschein, an den Vögeln oder an den roten Wolken, die morgens und abends darüber hinsegelten.

War es nun Winter und der Schnee ringsum lag funkelnd weiß, dann kam oft ein Hase gesprungen und setzte über den kleinen Baum hinweg, - oh, das war so ärgerlich! - Aber zwei Winter vergingen, und im dritten war der Baum so groß, daß der Hase um ihn herumgehen mußte. Oh, wachsen, wachsen, groß und alt werden, das war doch das einzig Schöne in dieser Welt, dachte der Baum.

Im Herbst kamen immer Holzhauer und fällten einige der größten Bäume; das geschah jedes Jahr, und der junge Tannenbaum, der nun ganz gut gewachsen war, zitterte dabei, denn die großen prächtigen Bäume fielen mit einem Knacken und Krachen zur Erde; die Äste wurden abgehauen, sie sahen ganz nackt, lang und schmal aus; sie waren beinahe nicht zu kennen, aber dann wurden sie auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie fort aus dem Wald.

Wo sollten sie hin? Was stand ihnen bevor?

Im Frühling, als die Schwalbe und der Storch kamen, fragte der Baum sie: "Wißt Ihr nicht, wo sie hingeführt wurden? Seid Ihr ihnen begegnet?"

Die Schwalben wußten nichts, aber der Storch sah nachdenklich aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: "Ja, ich glaube wohl! Ich begegnete manchem neuen Schiff, als ich von Ägypten herflog; auf den Schiffen waren prächtige Mastbäume; ich darf sagen, daß sie es waren, sie rochen nach Tanne; ich kann vielmals grüßen, sie ragen auf, sie ragen!"

"Oh, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinzufliegen. Wie ist es eigentlich, dieses Meer, und wem gleicht es?"

"Ja, das ist zu weitläufig zu erklären!" sagte der Storch, und dann ging er.

"Freue dich an deiner Jugend!" sagten die Sonnenstrahlen, "freue dich an deinem frischen Wachstum, an dem jungen Leben, das in dir ist!"

Und der Wind küßte den Baum, und der Tau weinte Tränen auf ihn, aber das verstand der Tannenbaum nicht.

Wenn die Weihnachtszeit kam, dann wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die nicht einmal so groß oder in einem Alter mit diesem Tannenbaum waren, der weder Rast noch Ruhe fand, sondern immer fort wollte; diese jungen Bäume, und es waren gerade die allerschönsten, behielten immer ihre Zweige, sie wurden auf die Wagen gelegt, und Pferde zogen sie fort aus dem Wald.

"Wohin sollen sie?" fragte der Tannenbaum. "Sie sind nicht größer als ich, da war sogar einer, der viel kleiner war; weshalb behielten sie alle ihre Zweige? Wo fuhren sie hin?"

"Das wissen wir! Das wissen wir!" zwitscherten die Sperlinge. "Wir haben unten in der Stadt in die Fenster geguckt ! Wir wissen, wo sie hinfahren! Oh, sie kommen zu dem größten Glanz und der größten Herrlichkeit, die man denken kann! Wir haben bei den Fenstern hineingeguckt und gesehen, daß sie mitten in die warme Stube gepflanzt und mit den schönsten Dingen geputzt wurden, mit vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und vielen hundert Lichtern!"

"Und dann - ?" fragte der Tannenbaum und zitterte an allen Zweigen. "Und dann? Was geschah dann?"

"Ja, mehr haben wir nicht gesehen! Das war unvergleichlich!"

"Wenn ich nun dazu geworden bin, um diesen strahlenden Weg zu gehen!"jubelte der Baum. "Das ist noch besser, als über das Meer zu fahren! Wie ich mich sehne! Wäre es doch Weihnachten! Nun bin ich hoch und breit wie die andern, die im letzten Jahr fortgefahren wurden! - Oh, wäre ich schon auf dem Wagen! Wäre ich doch in der warmen Stube mit all der Pracht und Herrlichkeit! Und dann -? Ja, dann kommt etwas noch Besseres, noch Schöneres, weshalb sollten sie mich sonst so schmücken! Da muß etwas noch Größeres, noch Herrlicheres kommen -! Aber was ? Oh, ich leide! Ich sehne mich! Ich weiß selbst nicht, was mit mir ist!"

"Freue dich mit mir!" sagten die Luft und das Sonnenlicht; "freue dich an deiner frischen Jugend draußen im Freien!"

Aber er freute sich gar nicht; er wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand er grün, dunkelgrün stand er; die Leute, die ihn sahen, sagten: "Das ist ein schöner Baum!" Und zur Weihnachtszeit wurde er als erster von allen gefällt. Die Axt traf tief hinein durch das Mark, der Baum fiel mit einem Seufzer hin zur Erde, er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er konnte gar nicht an irgendein Glück denken; er war betrübt, sich von der Heimat zu trennen, von dem Fleck, wo er aufgewachsen war. Er wußte ja, daß er nie mehr die lieben alten Kameraden sehen würde, die kleinen Büsche und Blumen ringsum, ja, vielleicht nicht einmal die Vögel. Die Abreise war gar nicht behaglich.

Der Baum kam erst zu sich, als er im Hof, mit den andern Bäumen abgepackt, einen Mann sagen hörte: "Der ist prächtig! Wir brauchen keinen anderen!"

Nun kamen zwei Diener in vollem Staat und trugen den Tannenbaum in einen großen schönen Saal hinein. Ringsum an den Wänden hingen Porträts und auf dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln; da waren Schaukelstühle, Seidensofas, große Tische voll von Bilderbüchern und mit Spielzeug für hundert mal hundert Reichstaler - wenigstens sagten die Kinder das. Und der Tannenbaum wurde in ein großes Faß voll Sand gestellt, aber niemand konnte sehen, daß es ein Faß war, denn es wurde rundherum mit grünem Zeug behängt und es stand auf einem großen bunten Teppich. Oh, wie der Baum bebte! Was würde noch geschehen? Sowohl Diener wie Fräuleins gingen und schmückten ihn. Auf die Zweige hängten sie kleine Netze, ausgeschnitten aus buntem Papier, jedes Netz war mit Zuckerzeug gefüllt; vergoldete Äpfel und Walnüsse hingen, als wären sie festgewachsen, und über hundert rote, blaue und weiße Lichtchen wurden an den Zweigen festgesteckt. Puppen, die leibhaftig wie Menschen aussahen - der Baum hatte so etwas nie zuvor gesehen -, schwebten in dem Grünen, und ganz zuoberst in den Wipfel wurde ein großer Stern aus Flittergold gesetzt; das war prächtig, unvergleichlich prächtig.

"Heute abend," sagten sie alle, "heute abend soll er strahlen!"

"Oh!" dachte der Baum, "wäre es doch Abend! wären nur die Lichter bald angezündet! Oh, was wohl dann geschieht? Ob dann die Bäume aus dem Walde kommen und mich ansehen? Ob die Sperlinge gegen die Scheiben fliegen? Ob ich hier festwachse und Winter und Sommer geschmückt stehe?"

Ja, der wußte gut Bescheid; aber er hatte nun ordentlich Rindenweh vor Sehnsucht, und Rindenweh ist ebenso schlimm für einen Baum, wie Kopfweh für uns andere!

Nun wurden die Lichte angezündet. Welcher Glanz, welche Pracht! Der Baum zitterte an allen Zweigen dabei, so daß eines der Lichte das Grüne ansteckte; er schwitzte ordentlich.

"Gott bewahre uns!" schrien die Fräuleins und löschten das Feuer schnell.

Nun durfte der Baum nicht einmal beben. Oh, das war ein Grauen! Er war so bange davor, etwas von all seinem Staat zu verlieren; er war ganz verwirrt von all dem Glanz -und nun gingen beide Flügeltüren auf und eine Menge Kinder stürzte herein, als wollten sie den ganzen Baum umreißen; die älteren Leute kamen besinnlich hinterher. Die Kleinen standen ganz still, aber nur einen Augenblick, dann jubelten sie wieder, so daß es hallte; sie tanzten rund um den Baum, und ein Geschenk nach dem andern wurde abgepflückt.

"Was tun sie nur?" dachte der Baum. "Was soll da geschehen?" Und die Lichte brannten bis auf die Zweige herab, und nachdem sie herabgebrannt waren, löschte man sie aus, und dann erhielten die Kinder Erlaubnis, den Baum zu plündern. Oh, sie stürzten auf ihn ein, so daß es in allen Ästen knackte; wäre er nicht mit der Spitze und dem Goldstern an der Decke festgebunden gewesen, so wäre er umgestürzt.

Die Kinder tanzten herum mit ihrem prächtigen Spielzeug, keiner sah den Baum an, außer dem alten Kindermädchen, das hinging und zwischen die Zweige guckte, aber das war nur, um zu sehen, ob nicht noch eine Feige oder ein Apfel vergessen war.

"Eine Geschichte! Eine Geschichte!" riefen die Kinder und zogen einen kleinen dicken Mann zum Baum hin, und er setzte sich grade darunter. "Denn dann sind wir im Grünen!" sagte er, "und dem Baum kann es noch besonders gut tun mit zuzuhören; aber ich erzähle nur eine Geschichte. Wollt Ihr von Ivede-Avede hören oder von Klumpe-Dumpe, der die Treppen herabfiel und doch auf den Hochsitz kam und die Prinzessin kriegte?"

"Ivede-Avede!" schrien einige, und "Klumpe-Dumpe!" schrien andere. Es war ein Rufen und Schreien, nur der Tannenbaum schwieg ganz stille und dachte: "Soll ich gar nicht dabei sein, gar nichts tun?" Er war ja dabei gewesen, hatte getan, was er tun sollte.

Und der Mann erzählte von "Klumpe-Dumpe", der die Treppen herabfiel und doch in den Hochsitz kam und die Prinzessin erhielt. Und die Kinder klatschten in die Hände und riefen: "Erzähle! Erzähle!" Sie wollten auch "Ivede-Avede" haben, aber sie bekamen nur "Klumpe-Dumpe" zu hören. Der Tannenbaum stand ganz still und gedankenvoll, niemals hatten die Vögel draußen im Wald so etwas erzählt. "Klumpe-Dumpe fiel die Treppen hinab und bekam doch die Prinzessin! Ja, ja! So geht es zu in der Welt!" dachte der Tannenbaum und glaubte, daß es wahr sei, weil es ein so netter Mann war, der erzählte. "Ja! ja! Wer kann wissen! Vielleicht falle ich auch die Treppen hinab und bekomme eine Prinzessin!" Und er freute sich auf den nächsten Tag, daß er wieder mit Eichten und Spielzeug, Gold und Früchten geschmückt werden solle.

"Morgen werde ich nicht zittern!" dachte er. "Ich will mich recht all meiner Herrlichkeit erfreuen. Morgen werde ich wieder die Geschichte von 'Klumpe-Dumpe' und vielleicht die von 'Ivede-Avede' hören." Und der Baum stand still und gedankenvoll die ganze Nacht.

Am Morgen kamen Burschen und Mädchen herein.

"Nun beginnt der Staat wieder!" dachte der Baum, aber sie schleppten ihn aus der Stube, die Treppen hinauf auf den Speicher und dort, in einer dunklen Ecke, wohin kein Tag schien, stellten sie ihn hin. "Was soll das bedeuten?" dachte der Baum. "Was habe ich wohl hier zu tun? Was werde ich wohl zu hören bekommen?" Und er lehnte sich gegen die Mauer und stand und dachte und dachte. - - Und gut Zeit hatte er, denn Tage und Nächte vergingen; keiner kam herauf, und als endlich jemand kam, war es, um einige große Kasten in die Ecke hinzustellen; der Baum stand ganz verborgen, man hätte glauben können, daß er rein vergessen war.

"Nun ist es Winter draußen!" dachte der Baum. "Die Erde ist hart und mit Schnee bedeckt. Die Menschen können mich nicht einpflanzen; deshalb soll ich wohl hier im Schutz stehen bis zum Frühling! Wie ist das wohlbedacht! Wie sind die Menschen doch gut! - Wäre es hier nur nicht so dunkel und so schrecklich einsam! - Nicht einmal ein kleiner Hase! - Das war doch so hübsch draußen im Wald, wenn der Schnee lag und der Hase vorbeisprang; ja selbst, als er über mich hinwegsprang, aber das mochte ich damals nicht. Hier oben ist es doch schrecklich einsam."

"Pi! Pi!" sagte eine kleine Maus in diesem Augenblick und schlüpfte hervor; und dann kam noch eine kleine. Sie schnüffelten am Tannenbaum und glitten zwischen den Zweigen auf ihm herum.

"Es ist eine grausame Kälte!" sagte die kleine Maus. "Sonst ist es hier herrlich zu sein! Nicht wahr, du alter Tannenbaum?"

"Ich bin gar nicht alt!" sagte der Tannenbaum, "es gibt viele, die viel älter sind als ich!"

"Wo kommst du her?" fragten die Mäuse, "und was weißt du?" Sie waren so schrecklich neugierig. "Erzähl' uns doch von dem schönsten Ort der Welt! Bist du dort gewesen? Warst du in der Speisekammer, wo Käse auf den Brettern liegen und Schinken unter der Decke hängen, wo man auf Talglichten tanzt und mager hineinkommt und fett herausgeht?"

"Das kenne ich nicht!" sagte der Baum, "aber den Wald kenne ich, wo die Sonne scheint und wo die Vögel singen!" Und dann erzählte er alles von seiner Jugend, und die kleinen Mäuse hatten nie zuvor so etwas gehört, und sie hörten zu und sagten: "Nein, wie viel hast du gesehen! Wie glücklich warst du!"

"Ich!" sagte der Tannenbaum und dachte über das, was er selbst erzählte: "Ja, es waren im Grunde ganz angenehme Zeiten!" - aber dann erzählte er vom Weihnachtsabend, als er mit Kuchen und Lichten geschmückt worden war.

"Oh!" sagten die kleinen Mäuse, "wie bist du glücklich gewesen, du alter Tannenbaum!"

"Ich bin gar nicht alt!" sagte der Baum, "es war ja in diesem Winter, daß ich aus dem Wald gekommen bin! Ich bin in meinem allerbesten Alter, ich bin nur im Wachstum voraus!"

"Wie du schön erzählst!" sagten die kleinen Mäuse, und nächste Nacht kamen sie mit vier anderen kleinen Mäusen, die den Baum erzählen hören sollten, und je mehr er erzählte, desto deutlicher erinnerte er sich selbst und dachte: "Es waren doch ganz vergnügte Zeiten! Aber sie können noch kommen! Sie können kommen! Klumpe-Dumpe fiel die Treppen hinab und bekam doch die Prinzessin, vielleicht kann ich auch eine Prinzessin bekommen!" Und dann dachte der Tannenbaum an solch einen niedlichen Birkenbaum, der draußen im Walde wuchs, der war für den Tannenbaum eine wirkliche schöne Prinzessin.

"Wer ist Klumpe-Dumpe?" fragten die kleinen Mäuse. Und da erzählte der Tannenbaum das ganze Märchen, er konnte sich jedes einzelnen Wortes erinnern; und die kleinen Mäuse waren bereit, auf die Spitze des Baumes zu springen vor lauter Vergnügen! Nächste Nacht kamen viel mehr Mäuse, und am Sonntag kamen auch zwei Ratten; aber sie sagten, daß die Geschichte nicht amüsant sei, und das betrübte die kleinen Mäuse, denn nun gefiel sie ihnen auch weniger.

"Können Sie nur die eine Geschichte?" fragten die Ratten.

"Nur die eine!" antwortete der Baum, "die hörte ich an meinem glücklichsten Abend, aber damals dachte ich gar nicht, wie glücklich ich war!"

"Das ist eine über die Maßen jämmerliche Geschichte! Kennen Sie keine mit Speck und Talglichten? Keine Speisekammergeschichten?" "Nein!" sagte der Baum.

"Ja, nun wollen wir Ihnen danken!" sagten die Ratten und gingen hinweg zu den Ihren.

Die kleinen Mäuse blieben zuletzt auch fort, und dann seufzte der Baum: "Das war doch ganz hübsch, als sie um mich herumsaßen, die zappligen Mäuschen, und hörten, was ich erzählte! Nun ist das auch vorbei! - Aber ich werde daran denken, mich zu freuen, wenn ich nun wieder hervorgeholt werde!"

Aber wann geschah das? - Ja doch! es war an einem Morgen, da kamen Leute und räumten auf dem Speicher auf. Die Kasten wurden weggehoben, der Baum hervorgezogen; sie warfen ihn freilich etwas hart auf den Boden, aber gleich schleppte ein Bursche ihn zur Treppe hin, wo der Tag schien.

"Nun beginnt wieder das Leben!" dachte der Baum; er fühlte die frische Luft, die ersten Sonnenstrahlen, - und nun war er draußen im Hof. Alles ging so schnell, der Baum vergaß ganz, sich selbst anzusehen, so viel war ringsum zu sehen. Der Hof stieß an einen Garten, und alles blühte darin; Rosen hingen da so frisch und duftend über das kleine Gitterwerk hinaus, und die Schwalben flogen umher und sagten: "Quirre-wirre-witt, mein Mann ist da!" Aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meinten.

"Nun werde ich leben!" jubelte er und breitete seine Zweige weit aus; ach, sie waren alle vertrocknet und gelb; er war in der Ecke zwischen Unkraut und Nesseln, da lag er, der Goldpapierstern saß noch oben an der Spitze und schimmerte im hellsten Sonnenschein.

Im Hof spielten ein paar der lustigen Kinder, die zur Weihnachtszeit um den Baum getanzt hatten und über ihn so froh gewesen waren. Eines der Kleinsten eilte hin und riß den Goldstern ab.

"Seht, was da noch auf dem häßlichen alten Weihnachtsbaum sitzt!" sagte es und trampelte auf den Zweigen, so daß sie unter seinen Stiefeln knackten.

Und der Baum sah auf all die Blumenpracht und Frische im Garten, er sah sich selbst an, und er wünschte, daß er in seiner dunklen Ecke auf dem Speicher geblieben wäre; er dachte an seine frische Jugend im Wald, an den lustigen Weihnachtsabend und an die kleinen Mäuse, die so froh die Geschichte von Klumpe-Dumpe gehört hatten.

"Vorbei! Vorbei!" sagte der arme Baum. "Hätte ich mich doch gefreut, da ich es konnte! Vorbei! Vorbei!"

Und der Hausknecht kam und hackte den Baum in kleine Stücke, ein ganzer Bund lag da; prächtig flammte das auf unter dem großen Braukessel; und es seufzte so tief; jeder Seufzer war wie ein kleiner Schuß; deshalb liefen die Kinder, die spielten, herein und setzten sich vor das Feuer, sahen es an und riefen: "Piff! Paff!" aber bei jedem Knall, der ein tiefer Seufzer war, dachte der Baum an einen Sommertag im Wald, an eine Winternacht draußen, wenn die Sterne leuchteten; er dachte an den Weihnachtsabend und Klumpe-Dumpe, das einzige Märchen, das er gehört hatte und zu erzählen wußte - und dann war der Baum ausgebrannt.

Die Jungen spielten im Hof, und der Kleinste hatte den Goldstern auf der Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen hatte. Nun war der vorbei, und der Baum war vorbei und die Geschichte auch! Vorbei, vorbei, und so geht es mit allen Geschichten!

 

Hans Christian Andersen

 


November 2019

Am 1. Solothurner Märchentag durfte ich von meinen "Herzstücken" erzählen. Schön wars!

Und meine Herzstücke begleiten mich durch den ganzen November.

Am 17. dieses Monats (siehe Veranstaltungen) erzähle ich noch viel mehr "Herzstücke".

Um euch etwas "gwungerig" zu machen ist mein Märchen des Monats auch eines meiner grossen "Herzstücke".

Welches es zwar nicht ins Programm geschafft hat, mir aber als Kind immer wieder mein Herz berührt hat.

 

 

Die zertanzten Schuhe

  

 

Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter, eine immer schöner als die andere.

Sie schliefen zusammen in einem Saal, wo ihre Betten nebeneinander standen, und abends wenn sie darin lagen, schloß der König die Tür zu und verriegelte sie.

Wenn er aber am Morgen die Türe aufschloß, so sah er, daß ihre Schuhe zertanzt waren, und niemand konnte herausbringen, wie das zugegangen war.

Da ließ der König ausrufen, wers könnte ausfindig machen, wo sie in der Nacht tanzten, der sollte sich eine davon zur Frau wählen und nach seinem Tod König sein: wer sich aber meldete und es nach drei Tagen und Nächten nicht herausbrächte, der hätte sein Leben verwirkt.

Nicht lange, so meldete sich ein Königssohn und erbot sich, das Wagnis zu unternehmen.

Er ward wohl aufgenommen und abends in ein Zimmer geführt, das an den Schlafsaal stieß.

Sein Bett war da aufgeschlagen, und er sollte acht haben, wo sie hingingen und tanzten; und damit sie nichts heimlich treiben konnten oder zu einem andern Ort hinausgingen, war auch die Saaltüre offen gelassen.

Dem Königssohn fiels aber wie Blei auf die Augen und er schlief ein, und als er am Morgen aufwachte, waren alle zwölfe zum Tanz gewesen, denn ihre Schuhe standen da und hatten Löcher in den Sohlen.

Den zweiten und dritten Abend gings nicht anders, und da ward ihm sein Haupt ohne Barmherzigkeit abgeschlagen.

Es kamen hernach noch viele und meldeten sich zu dem Wagestück, sie mußten aber alle ihr Leben lassen.

Nun trug sichs zu, daß ein armer Soldat, der eine Wunde hatte und nicht mehr dienen konnte, sich auf dem Weg nach der Stadt befand, wo der König wohnte.

Da begegnete ihm eine alte Frau, die fragte ihn, wo er hin wollte.

'Ich weiß selber nicht recht,' sprach er, und setzte im Scherz hinzu 'ich hätte wohl Lust, ausfindig zu machen, wo die Königstöchter ihre Schuhe vertanzen, und danach König zu werden.'

'Das ist so schwer nicht,' sagte die Alte, 'du mußt den Wein nicht trinken, der dir abends gebracht wird, und mußt tun, als wärst du fest eingeschlafen.' Darauf gab sie ihm ein Mäntelchen und sprach 'wenn du das umhängst, so bist du unsichtbar und kannst den zwölfen dann nachschleichen.'

Wie der Soldat den guten Rat bekommen hatte, wards Ernst bei ihm, so daß er ein Herz faßte, vor den König ging und sich als Freier meldete.

Er ward so gut aufgenommen wie die andern auch, und wurden ihm königliche Kleider angetan.

Abends zur Schlafenszeit ward er in das Vorzimmer geführt, und als er zu Bette gehen wollte, kam die älteste und brachte ihm einen Becher Wein: aber er hatte sich einen Schwamm unter das Kinn gebunden, ließ den Wein da hineinlaufen, und trank keinen Tropfen.

Dann legte er sich nieder, und als er ein Weilchen gelegen hatte, fing er an zu schnarchen wie im tiefsten Schlaf.

Das hörten die zwölf Königstöchter, lachten, und die älteste sprach 'der hätte auch sein Leben sparen können.'

Danach standen sie auf, öffneten Schränke, Kisten und Kasten, und holten prächtige Kleider heraus: putzten sich vor den Spiegeln, sprangen herum und freuten sich auf den Tanz.

Nur die jüngste sagte 'ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir ist so wunderlich zumut: gewiß widerfährt uns ein Unglück.'

'Du bist eine Schneegans,' sagte die älteste, 'die sich immer fürchtet. Hast du vergessen, wie viel Königssöhne schon umsonst dagewesen sind? Dem Soldaten hätt ich nicht einmal brauchen einen Schlaftrunk zu geben, der Lümmel wäre doch nicht aufgewacht.'

Wie sie alle fertig waren, sahen sie erst nach dem Soldaten, aber der hatte die Augen zugetan, rührte und regte sich nicht, und sie glaubten nun ganz sicher zu sein.

Da ging die äIteste an ihr Bett und klopfte daran: alsbald sank es in die Erde, und sie stiegen durch die Öffnung hinab, eine nach der andern' die älteste voran.

Der Soldat, der alles mit angesehen hatte, zauderte nicht lange, hing sein Mäntelchen um und stieg hinter der jüngsten mit hinab.

Mitten auf der Treppe trat er ihr ein wenig aufs Kleid, da erschrak sie und rief 'was ist das? Wer hält mich am Kleid?'

'Sei nicht so einfältig,' sagte die älteste, 'du bist an einem Haken hängen geblieben.'

Da gingen sie vollends hinab, und wie sie unten waren, standen sie in einem wunder prächtigen Baumgang, da waren alle Blätter von Silber und schimmerten und glänzten.

Der Soldat dachte 'du willst dir ein Wahrzeichen mitnehmen,' und brach einen Zweig davon ab: da fuhr ein gewaltiger Krach aus dem Baume.

Die jüngste rief wieder 'es ist nicht richtig, habt ihr den Knall gehört?'

Die älteste aber sprach 'das sind Freudenschüsse, weil wir unsere Prinzen bald erlöst haben.'

Sie kamen darauf in einem Baumgang, wo alle Blätter von Gold, und endlich in einen dritten, wo sie klarer Demant waren: von beiden brach er einen Zweig ab, wobei es jedesmal krachte, daß die jüngste vor Schrecken zusammenfuhr: aber die älteste blieb dabei, es wären Freudenschüsse.

Sie gingen weiter und kamen zu einem großen Wasser, darauf standen zwölf Schifflein, und in jedem Schifflein saß ein schöner Prinz, die hatten auf die zwölfe gewartet, und jeder nahm eine zu sich, der Soldat aber setzte sich mit der jüngsten ein.

Da sprach der Prinz 'ich weiß nicht. das Schiff ist heute viel schwerer, und ich muß aus allen Kräften rudern, wenn ich es fortbringen soll.'

'Wovon sollte das kommen,' sprach die jüngste, 'als vom warmen Wetter, es ist mir auch so heiß zumut.'

Jenseits des Wassers aber stand ein schönes hell erleuchtetes Schloß, woraus eine lustige Musik erschallte von Pauken und Trompeten.

Sie ruderten hinüber, traten ein, und jeder Prinz tanzte mit seiner Liebsten; der Soldat aber tanzte unsichtbar mit, und wenn eine einen Becher mit Wein hielt, so trank er ihn aus, daß er leer war, wenn sie ihn an den Mund brachte; und der jüngsten ward auch angst darüber, aber die älteste brachte sie immer zum Schweigen.

Sie tanzten da bis drei Uhr am andern Morgen, wo alle Schuhe durchgetanzt waren und sie aufhören mußten. Die Prinzen fuhren sie über das Wasser wieder zurück, und der Soldat setzte sich diesmal vorne hin zur ältesten. Am Ufer nahmen sie von ihren Prinzen Abschied und versprachen, in der folgenden Nacht wiederzukommen.

Als sie an der Treppe waren, lief der Soldat voraus und legte sich in sein Bett, und als die zwölf langsam und müde herauf getrippelt kamen, schnarchte er schon wieder so laut, daß sies alle hören konnten, und sie sprachen 'vor dem sind wir sicher.'

Da taten sie ihre schönen Kleider aus, brachten sie weg, stellten die zertanzten Schuhe unter das Bett und legten sich nieder.

Am andern Morgen wollte der Soldat nichts sagen, sondern das wunderliche Wesen noch mit ansehen, und ging die zweite und die dritte Nacht wieder mit. Da war alles wie das erste mal, und sie tanzten jedesmal, bis die Schuhe entzwei waren.

Das dritte mal aber nahm er zum Wahrzeichen einen Becher mit.

Als die Stunde gekommen war, wo er antworten sollte, steckte er die drei Zweige und den Becher zu sich und ging vor den König, die zwölfe aber standen hinter der Türe und horchten, was er sagen würde.

Als der König die Frage tat 'wo haben meine zwölf Töchter ihre Schuhe in der Nacht vertanzt?' so antwortete er 'mit zwölf Prinzen in einem unterirdischen Schloß,' berichtete, wie es zugegangen war, und holte die Wahrzeichen hervor.

Da ließ der König seine Töchter kommen und fragte sie, ob der Soldat die Wahrheit gesagt hätte, und da sie sahen, daß sie verraten waren und leugnen nichts half, so mußten sie alles eingestehen.

Darauf fragte ihn der König, welche er zur Frau haben wollte. Er antwortete 'ich bin nicht mehr jung, so gebt mir die älteste.'

Da ward noch am selbigen Tage die Hochzeit gehalten und ihm das Reich nach des Königs Tode versprochen.

Aber die Prinzen wurden auf so viel Tage wieder verwünscht, als sie Nächte mit den zwölfen getanzt hatten.

 

Märchen der Gebrüder Grimm

 


 

Oktober 2019

 

Mit grossen Schritten gehen wir auf Samhain/Halloween zu.

Zeit, für die Fülle über die warmen Monate zu danken, zurückzuschauen und inne zuhalten.

Dankbar sein für das was war und wer bei uns war.

Ein rauschendes Fest, das wir mit unseren Liebsten begehen (können).

Wohlwollend und freudig an die denken, die nicht mehr unter uns sind.

Es ist eine Zeit, in der wir an unsere eigene Sterblichkeit erinnert werden.

Genau die Sterblichkeit, vor der sich so viele fürchten....

Unsere Gesellschaft versteckt sich hinter jeder Menge Arbeit/Verpflichtungen und lenkt sich gerne mit einem lauten und extrovertierten Leben von den eigenen Gedanken ab. Das schlimme dabei ist, dass wir unser Leben teilnahmslos und ungelebt an uns vorbeiziehen lassen.

Doch allzu oft vergessen wir, dass wir hier nicht lebend herauskommen. Wie man so schön sagt.

Und um es mit den Worten von Sido im Song "Leben vor dem Tod" noch etwas genauer zu definieren;

"Irgendwann ist es zu spät und dann fehlt dir die Zeit

Denn der Zeiger bleibt nicht stehen, alles geht mal vorbei, lass uns leben"

 

 

Abwarten und Tee trinken (oder spinnen) ist nicht immer die beste Idee, wie mein Märchen des Monats zeigt...

 

Der seltsame Besucher

 

Eine Frau sass an ihrer Haspel bei Nacht, 

sass am Feuer und wand und wand das Garn;

und die Zeit war so lang, und sie wünschte sich sehr:

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kamen zwei Füsse zur Tür herein, gross waren die und breit, 

und sie blieben beim Feuer stehn.

 

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kamen zwei Beine zur Tür herein, klein waren die und mager, und sie stellten sich auf die breiten Füsse.

 

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kamen zwei Knie zur Tür herein, gross waren die und breit,

und sie sprangen auf die mageren Beine.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

 

Da kamen zwei Schenkel zur Tür herein, klein waren die und mager, und sie sprangen auf die grossen Knie.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

  

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kamen zwei Hüften zur Tür herein, gross waren die und breit, und sie sprangen auf die mageren Schenkel.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

  

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da hüpfte ein Rumpf zur Tür herein, klein war der und mager,

und der sprang auf die grossen Hüften hinauf.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kamen zwei Schultern zur Tür herein, gross waren die und breit,

und sie sprangen auf den mageren Rumpf.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kamen zwei Arme zur Tür herein, klein waren die und mager, und sie hängten sich an die breiten Schultern.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kamen zwei Hände zur Tür herein, gross waren die und breit, und sie hängten sich an die mageren Arme.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kam ein Hals zur Tür herein, klein war der und mager, und er sprang auf die breiten Schultern hinauf.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

Da kam ein Kopf zur Tür herein, riesig war der und kahl, und er sprang auf den mageren Hals hinauf.

Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang:

 

"Ach, käm` mich doch einer besuchen!"

"Was sind deine Füsse so gross und breit?" fragte die Frau den Besucher.

"Bin zu lange und zu weit gegangen!"

"Was sind deine Beine so mager und klein?"

"Oh weh, hab so wenig Friedhofserde!"

"Was sind deine Knie so gross und breit?"

"Hab zu viel und zu lange gebetet!"

"Was sind deine Schenkel so mager und klein?"

"Oh weh, hab so wenig Friedhofserde!"

"Was sind deine Hüften so gross und breit?"

"Hab zu viel und zu lange gesessen!"

"Was ist dein Rumpf so mager und klein?"

"Oh weh, hab so wenig Friedhofserde!"

"Was sind deine Schultern so gross und breit?"

"Hab zu viel und zu lange getragen!"

"Was sind deine Arme so mager und klein?"

"Oh weh, hab so wenig Friedhofserde!"

"Was sind deine Hände so gross und breit?"

" Hab zu viel und zu lange gedroschen!"

"Was ist dein Hals so mager und klein?"

"Oh weh, hab so wenig Friedhofserde!"

"Was ist dein Kopf so riesig und kahl?"

"Hab zu viel und zu lange gegrübelt!"

"Und was suchst du hier mitten in der Nacht?"

"Dich, dich komm ich holen!"

 

Heinrich Dickerhoff / Keltische Märchen / Königsfurth - Urania


 

September 2019

 

Zum ersten Mal in der Geschichte des Monatsmärchens, ist es ein Schweizer Märchen, welches den Weg in mein Herz gefunden hat.

Es stammt aus dem Tessin, und passt tiptop zu meiner Bergsehnsucht, die ich die nächsten Tage stillen werde.

Wer weiss, welches Märchen mich in der Einsamkeit der Berge finden wird.....

Der Oktober wird es zeigen.....

 

Das Adlermädchen

 

An einem warmen Julitag stieg eine Witfrau auf den Berg hinauf, um zu heuen.

Sie trug in ihrem grossen Korb, den sie auf den Rücken gebunden hatte, auch ihr zweijähriges Kind.

Das war ein herziges und wunderliebliches Mädchen. 

Während die Mutter emsig mit Heuen beschäftigt war, hüpfte das Kind bald da-, bald dorthin, um Alpenblümlein zu pflücken.

Auf einmal kam ein mächtiger Adler, gleich einem fallenden Stern, auf das Kind herabgeschossen, packte die Kleine mit seinen scharfen Krallen und trug sie davon in sein Nest.

Denkt euch den Schrecken, die Verzweiflung und das Weinen der unglücklichen Mutter! 

Aber wie sonderbar, das Kind hatte keine Angst vor dem schrecklichen Raubvogel.

Es schmiegte sich zufrieden an seinen Hals, lachte und spielte mit seinen Federn.

Der Adler, besiegt von den unschuldigen und anmutigen Liebkosungen der Kleinen, fasste Zuneigung zu ihr und beschloss, sie als Tochter an Kindes statt anzunehmen.

Er brachte ihr Früchte und wilden Honig zu essen und zeigte ihr, wie man auf den abschüssigen Felsen der Berge herumklettern konnte und wie sie sich festklammern musste, um nicht hinunterzustürzen.

Eines schönen Tages begann der Adler für sein Pflegekind in die Dörfer tief unten im Tal oder in die Ebene hinunterzufliegen, um allerhand Wäsche und Kleidchen der Bauernmädchen zu rauben, die diese zum Trocknen in die Sonne gehängt hatten.

Dann, als das Kind immer grösser wurde, wollte er, dass es Kleider aus Samt und Seide anzöge.

Deshalb flog er in die Schlösser und Paläste der Königinnen und Prinzessinnen, raubte dort die wundervollen Kleider und trug sie von dannen auf die unzulänglichen Höhen seiner Felshöhle.

Eine Königin, der eine Menge Kleider und Schmucksachen auf diese Weise weggekommen waren, bat schliesslich ihren Sohn, jenen schrecklichen Raubvogel zu erjagen.

Der Prinz wollte zuerst seiner Mutter nicht gehorchen.

Dann aber fragte er sich, neugierig geworden, wieso wohl ein Vogel dazu komme, Kleider und Juwelen zu stehlen, und er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Monat um Monat streifte er im Gebirge umher, ohne den Raubvogel zu finden.

Schon hatte er wieder den Entschluss gefasst, sein kühnes Unternehmen aufzugeben, als er plötzlich, an einem schönen Tag im Mai eine süsse Mädchenstimme hörte, die hoch über ihm sang.

Sogleich kletterte er am Felsen empor und fand die junge Sängerin ganz vergnüglich im grossen Nest des Adlers sitzen.

Wie überirdisch schön sie war!

Der Jüngling machte sich bemerkbar, und sogleich fassten die beiden Vertrauen zueinander.

Das Mädchen berichtete dem Prinzen die wundersame Geschichte von seiner Entführung und dem Leben in der Bergeinsamkeit.

Der Prinz aber wünschte sich nichts mehr, als dass es in sein Schloss komme und seine Gemahlin werde.

Das Mädchen war damit einverstanden.

Sie stiegen zusammen ins Tal und gelangten endlich zur Königsburg.

Dort stellte der Prinz das wunderschöne Mädchen dem Vater vor und erzählte ihm, wie sie sich gefunden hatten.

Der König hiess die junge Frau mit einem Kuss willkommen.

Er nannte sie Aquila oder Adlermädchen.

Dann gab er seine Einwilligung zur Verlobung und liess alle Vorbereitungen für eine glanzvolle Hochzeit treffen.

Die alte Königin jedoch konnte sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn eine solch abenteuerliche Vermählung eingehen und ein wildfremdes Mädchen ohne Rang und Namen zur Frau nehmen sollte.

Sie befahl daher zwei Dienern, die Braut in den Fluss zu werfen. 

Diese gehorchten ihr.

Der Adler jedoch hörte das verzweifelte Schreien des armen Mädchens, das im Begriff war, von den reissenden Wassern verschluckt zu werden.

Schnell wie ein Pfeil flog er herbei und brachte die Ertrinkende ans Ufer.

Darauf kehrte Aquila in das Schloss zurück.

Am folgenden Tag heiratete der schöne Prinz seine liebliche Braut.

Um die grausame Königin zu bestrafen, zog sich der König von der Regierung zurück und überliess den Thron seinem Sohne.

Die grausame Königin musste ihre Krone an ihre Schwiegertochter abgeben.

Nun war Aquila die neue Königin, und ihr Mann und sie regierten das Land mit der Weitsicht des Adlers und dem Verstand des Menschen.

 

Eva-Maria Wilhelm / Alpenmärchen / Faro Verlag

 


August 2019

 

Tja.....die Geschichtenhüterin und saisonale Märchen....

Irgendwie berührt mich immer "unsaisonales".... und zum ersten Mal gibt es eine "Sage des Monats".

Das kommt davon, wenn Frau in einer Münchner Buchhandlung herumstöbert und zwei Sagenbücher aus Bayern findet

(Ja, zwei! Eventuell bleibt es nicht nur bei dieser einen Sage in dieser Sparte...)

Und ausserdem stammt diese Sage aus einer sehr schönen Gegend, dem Starnberger See

(bei meiner Durchreise zwar eine sehr verregnete Gegend, doch einiges schöne konnte man erahnen...)

Rückkehr dahin nicht ausgeschlossen.

 

 

Erklären will ich am Anfang noch, wer die Panduren waren...

Im Jahre 1743 waren die Österreicher in Bayern eingefallen. Die Ansprüche auf den österreichischen Thron durch bayrische, spanische und sächsische Thronanwärter hatten den Österreichischen Erbfolgekrieg ausgelöst. Den Österreichern zur Seite kämpften mitleidlos und grausam die aus Ungarn stammenden Panduren, ein gefürchteter Reiterhaufen. Es kam zu vielen grausamen Gefechten zwischen diesen marodierenden Soldaten und bayrischen Truppenteilen.

 

 

Panduren im Starnberger See

 

In einer üblen Zeit trieb sich eine Schwadron zügelloser Panduren in der Gegend von Ambach herum, plünderte und brandschatzte erbarmungslos in den schutzlosen Gehöften am Ostufer des Starnberger Sees.

Die Soldaten suchten auch den Ambacher Fischer heim, es war am Ende des Winters 1748, aber der See war noch gefroren.

Am gegenüberliegenden Ufer lag das Kloster Bernried, und den ungarischen Reitern stand die Gier nach den dort zu raubenden Kirchenschätzen förmlich ins Gesicht geschrieben.

«Führ uns hinüber» befahlen sie dem jungen Fischersohn Mathi, der schon in Handfesseln gebunden da stand.

«Nur wenn ihr meine Schwester verschont», versuchte der Bursch zu verhandeln, die Panduren lachten hämisch über diese verzweifelte Bitte, gingen aber zum Schein darauf ein.

Noch lag der See von Eis bedeckt im letzten Abendlicht. Die Winterkälte hatte Ende Februar schon an Kraft eingebüsst, der erste Frühlingswind war zu spüren. Beim Blick hinüber auf die Zugspitz und das Wettersteinmassiv zeigten sich linsenförmige Wolken. Felsen und Rinnen lagen zum Greifen nah. Untrüglich waren die Zeichen: Der Föhn würde heute Nacht hereinbrechen.

Der Mathi hatte Namenstag, «Mattheis» fällt auf den 24. Februar, und jeder am Seeufer kannte die uralte Bauernregel: »Taut es vor und nach Mattheis, geht kein Fuchs mehr übers Eis. Mattheis brichts Eis.»

Doch die Panduren wussten nichts von den hiesigen Bauernregeln und die Goldgier trübte ihren Blick auf das umschlagende Wetter. So trieben sie den Mathi an, loszugehen. Er umarmte im weggehen noch seine Schwester. «Gnad uns Gott, wenn die zurückkommen!» flüsterte sie ihm leise zu.

«Die kommen nicht mehr», antwortete er lächelnd, mit einer Träne im Auge.

Der Mathi ging los, am Bootshaus vorbei und hinaus auf den See. Die Reiter folgten ihm und trieben ihn zur Eile an.

«Wir kommen noch früh genug an» dachte der Mathi bei sich.

Da, schlagartig änderte sich das Wettergeschehen: Vom Gebirge her setzte ein Fönwind ein, kam immer stärker auf, bis er sich zum Sturm entwickelte. Die kalte Luft über dem See blies er hinaus und davon, und mit seiner Energie fing er an, das Eis wie in einem Wärmeofen aufzutauen. Ein Bersten und Knacken. Knirschen und Schieben kam in Gang, das Eis zerbarst wie Glas, verwandelte sich in ein brüchiges Spinnennetz, begann zu schwingen und zu tanzen. Die Pferde wieherten todesahnend auf und stürmten los, lösten aber dadurch einen Wellenschlag aus, der sich unter dem Eis weiter fortsetzte. Der Mathi hatte die Reiterschar absichtlich zu einer dünnen Stelle geführt, unter der eine tiefe Quelle das Wasser am Strömen hielt und von der sich jeder Kundige fernhielt.

Unter wirren Kommandorufen versuchten die Panduren in alle Richtungen davonzujagen, aber die Pferde brachen im dünnen Eis ein, versuchten sich angstvoll über Wasser zu halten.

Föhnwind trug das Krachen und Bersten, das Wiehern und Schreien bis nach Starnberg hinüber.

Eisschollen zerbrachen unter der Last von Ross und Reitern, kippten zur Seite, dann war Stille: Das Wasser schloss sich über der gespenstischen Szenerie. Die Panduren und der Mathi sanken hinunter, bis sie sanft auf dem Seegrund aufsetzten.

 

In Amberg beim Fischer erzählt man sich, dass die Panduren heut noch drunten als Skelette im Sattel auf ihren Pferden sitzen. Dem Mathi wurde, solange das Kloster Bernried bestand, jährlich ein Gottesdienst abgehalten. An Mattheis soll man noch heute eine Reiterschar wie eine Lichtwolke über den See ziehen sehen.

 

Karl-Heinz Hummel / Wassersagen aus Bayern / Allitera Verlag



 

Juni 2019

 

 Zugegeben, der Juni war eine harte Nuss. Es sollte doch etwas blumiges, blühendes sein.

Doch ein gefiederter Gefährte ist mir immer wieder durch meinen Garten, meine Vorstellungen und meine Gedanken geflogen.... und er wird es, denke ich auch weiterhin tun....

Raben haben doch irgendetwas verzaubernd, faszinierendes an sich. Mit einem tüchtigen Schuss Tollpatschigkeit..... 

" Die sieben Raben" ist das erste Märchen, dass mir zu diesem Thema in den Sinn kam. Und dennoch habe ich mich für ein Märchen entschieden, dass auf der Etikette meines neuesten Stofftiers, natürlich eines Raben, stand. Es ist ein Märchen der Amerikanischen Ureinwohner. Und bei ihnen ist der Rabe, besser gesagt, die Rabin der (betrügerisch) erschaffende Gott.

Die Fassung auf der Etikette ist auf Englisch, und ich versuche es hier wiederzugeben. Man beachte auch bitte, dass die am Ende von den Tieren gesprochenen Worte nur in Englisch wirklich Sinn ergeben....an einer Mundart Fassung arbeite ich...

 

 

Wie der Rabe das Wasser zurückbrachte

 

 

Vor langer Zeit, da war das Wasser im ganzen Land verschwunden.

Flüsse und Seen waren ausgetrocknet. Bäume und Tiere mussten sterben. Die Rabin, die Erschafferin, wusste, dass es an ihr war, das Wasser zu finden.

Sie flog über rissiges und ausgedörrtes Land. Über Berge ohne Schnee.

Schlussendlich fand sie ein grünes Tal. Und in der Mitte dieses Tals sass ein riesiger Frosch mit einem gewaltigen Bauch.

In diesem Bauch hatte er das Wasser der ganzen Welt.

Als der riesige Frosch die Rabin sah, wollte er sie mit seiner Zunge wegschleudern. Er rief:" Ich werde niemals teilen!".

Als die Zunge das nächste Mal draussen war, platzierte die Rabin einen Stein darauf.

Der Frosch verschluckte den Stein und bekam heftige Bauchschmerzen.

"Ich will dir helfen," Sagte die Rabin " wenn du versprichst, das Wasser zu teilen." 

Und so durchstach die Rabin mit ihrem Schnabel die Bauchseite des Frosches, um so das ganze Wasser und den Stein hinaus zu lassen.

Danach sammelte sie das Wasser und verstaute es unter ihren Flügeln.

Als sie dann umher flog liess sie Tropfen um Tropfen fallen, und verteilte den Rest in den Flüssen und Seen.

Der Frosch fühlte sich schuldig und realisierte, dass er viel lieber auf dem Stein im Wasser sässe.

Darum hört man ihn immer noch sagen "Sor-ry, Sor-ry".

Und die Raben schreien beim umherfliegen " Rock, Rock, Rock" um den Frosch daran zu erinnern, nicht gierig zu werden.

 

Märchen der Amerikanischen Ureinwohner

 

 


Mai 2019

 

Die Hexe und ihr Ehemann

 

Vor langer Zeit lebten in Schottland ein alter Mann und seine Frau. Der Alte war gutmütig und bei jedermann beliebt. 

 Die Frau hingegen war etwas sonderbar. Die Nachbarn sahen sie schief an und flüsterten einander zu, sie sei eine Hexe.

Ihr Mann befürchtete das auch, denn manche Nächte verschwand die Frau und wenn sie am Morgen zurückkehrte, sah sie blass und erschöpft aus.

Obwohl er sie beobachtete, gelang es ihm nicht herauszufinden, wohin sie ging.

Schliesslich konnte er die Ungewissheit nicht mehr länger ertragen und fragte sie geradeheraus: „Bist du eine Hexe oder nicht?“ Das Blut stockte ihm in den Adern, als sie antwortete: „Ja, ich bin eine Hexe und wenn du mir versprichst, dass du es niemandem erzählst, werde ich dir nach dem nächsten Hexenausflug alles berichten.“

Der gute Mann versprach es, denn er wollte unbedingt wissen, was seine Frau denn so trieb.

Er brauchte nicht lange zu warten. In der nächsten Woche war Neumond und wie man weiss ist das die beste Zeit für die Hexen.

Sie verschwand also in der Neumondnacht, kehrte bei Morgengrauen zurück und erzählte ihm folgendes: „In der alten Heide hinter der Kirche habe ich mich mit meinen vier Gefährtinnen getroffen. Dieses Mal haben wir Muschelschalen als Boote genommen und sind über das stürmische Meer bis Norwegen gesegelt. Wir bestiegen unsichtbare Sturmpferde und ritten über Berge, Schluchten und Gletscher bis ins Land der Lappen, wo noch Schnee lag. Dort feierten wir mit Elfen, Feen und Meerfrauen, Zwergen, Zauberern und Kobolden ein wildes Fest.

Wir tranken Bier aus Hörnern, schlemmten, tanzten und sangen. Wir lernten neue Zauberworte von ihnen, wie man fliegen kann und wie man durch geschlossene Türen kommt. “

Der Mann hatte still zugehört und sagte: „Wie seid ihr nur auf ein solches Land verfallen? Das ist doch kalt dort. In euren Betten wär‘s sicher wärmer gewesen.“

Doch als die Frau ging nicht weiter darauf ein und ging bald wieder auf ihren nächsten Ausflug.

Wieder erzählte sie von ihrem Abenteuer, als sie heimkehrte und diesmal interessierte es den Mann doch etwas mehr: „Ich habe mich mit meinen Gefährtinnen bei der alten Hütte getroffen und dann sind wir zum Bischofspalast geflogen und durch die geschlossene Tür des Weinkellers gekommen. Dort haben wir von seinem edlen Wein probiert.“

Der Mann sagte darauf: „Meiner Treu! Du bist wirklich eine Frau, auf die man stolz sein kann! Sage mir doch auch die Zauberworte, damit ich den Wein seiner Lordschaft ebenfalls versuchen kann.“

Doch die Frau schüttelte den Kopf: „Nein, nein, das darf ich nicht. Sonst erzählst du es weiter und bald würde jeder seine Arbeit im Stich lassen, über die Erde fliegen und gierig dem edlen Wein nachjagen. Sei zufrieden Alter, du hast genug und kommst schon durchs Leben mit dem, was du weisst.“

Obwohl der Mann versuchte seine Frau mit Schmeicheleien zu überreden, gab sie ihr Geheimnis nicht preis. Aber der Alte war schlau und der Gedanke an den Wein des Bischofs liess ihm keine Ruhe. Er wusste, wo sich seine Frau sich zu diesem Zweck mit ihren Freundinnen traf.

So ging er Nacht für Nacht zu dieser Hütte, lange Zeit vergeblich. Aber endlich, eines Abends sah er die Frauen dort.

Sie versammelten sich in der Hütte um die Feuerstelle, setzten einen Fuss auf den russigen Haken des Wasserkessels und flüsterten die Zauberworte aus Lappland.

Hui, wie der Blitz verschwanden sie den Kamin hinauf und flogen durch die Lüfte davon. „Das kann ich auch“, sagte sich der Alte, kroch aus seinem Versteck hervor und tat es den Frauen gleich. Da Hexen nie über die Schulter sehen, bemerkten sie ihn erst, als sie den Bischofspalast erreichten und in den Weinkeller schlüpften.

Sie waren verwundert und auch etwas verärgert, ihn zwischen sich zu finden.

Aber es war nun mal nicht zu ändern und sie liessen sich mit ihm nieder und zapften gemeinsame ein Fass nach dem anderen an.

Während die Frauen nur so viel tranken wie ihr Kopf noch klar blieb, schlürfte der Alte und schlürfte bis er ganz schläfrig wurde, niedersank und einschlief.

Als die Frau das sah, dachte sie, dass es eine gerechte Strafe für seine Neugier sei, wenn sie ihn nicht weckte.

Und so machte sie sich mit den anderen Frauen beim Hahnenschrei davon.

Der Alte schlief einige Stunden friedlich bis zwei Diener des Bischofs in den Keller kamen, um Wein für ihren Herrn zu holen.

Fast wären sie in der Dunkelheit über ihn gefallen.

Sie schleppten ihn hinaus ans Tageslicht und fragten ihn erstaunt, wie er durch die verschlossenen Türen gekommen sei.

Der arme Alte war so verwirrt, dass er stotterte, er sei mit dem Wind um Mitternacht gekommen.

Da schrien die Diener „Ein Zauberer, ein Hexenmeister!“ und zerrten ihn vor den Bischof und da auch der Bischof Angst vor Hexen und Zauberern hatte, liess er ihn zum Scheiterhaufen verurteilen.

Der arme Mann zitterte und bebte. Er wünschte sich, er wäre lieber daheim in seinem Bett geblieben, als des Bischofs Wein zu kosten.

Aber nun war es zu spät. Die Knechte legten ihn in Ketten, banden ihn an den Eisenpfahl und zündeten die Reisigbündel zu seinen Füssen an.

Nun glaubte der alte Mann, seine letzte Stunde sei gekommen.

Er hatte in seinem Schrecken vollkommen vergessen, dass seine Hexe war. Als die Flammen schon seine Kleider anzubrennen begannen, ertönte ein Sausen und Flattern in der Luft.

Ein grosser, grauer Vogel mit grossen Schwingen erschien am Himmel. Im Schnabel trug er eine rote Nachtmütze.

Er liess sich auf der Schulter des Mannes nieder, stülpte ihm die Mütze über und liess ein grimmiges Krächzen ertönen.

Doch für den Mann war dies die schönste Musik, denn er erkannte darin die Stimme seiner Frau, die ihm Zauberworte zukommen liess.

Kaum hatte er sie wiederholt, fielen die Ketten von ihm ab und er flog in die Luft und nach Hause , während die Blicke der Zuschauer ihm mit Ehrfurcht folgten.

Als er sich wieder geborgen zu Hause fand, versuchte er nie wieder – das könnt ihr glauben – die Geheimnisse seiner Frau nachzuforschen.

Er liess sie in Zukunft allein bei ihren Künsten. 

 

Märchen aus Schottland

 


 

April 2019

 

Oengus Traum

 

Oengus war ein Feenprinz und der Sohn von Dagda, dem Vater aller Götter.
Eines Nachts geschah es dass Oengus im Schlaf eine Gestalt an sein Bett treten sah. Ein lieblicher Duft nach Apfelblüten stieg ihm in die Nase und als er sich aufsetzte erkannte er im Dämmerlicht, dass es die schönste Jungfrau war, die er je in Èriu (Irland) je gesehen hatte. 
 
Ihre Stimme war so lieblich und rein und ein sanftes Licht schien sie zu umstrahlen. 

 Es war Caer, die Tochter von Ethal. Oengus verliebte sich auf den ersten Blick in sie und er wollte schon nach ihrer Hand greifen

und sie an sich ziehen, da wich sie plötzlich vonihm und verschwand.
Und Oengus wusste nicht wohin. 

Ein Jahr lang sah er das Mädchen in seinen Träumen, sie spielte auf einer Harfe für ihn und sang mit ihrer
lieblichen Stimme dazu. Doch konnte er weder mit ihr sprechen noch sie berühren, da ihn ihre schwermütigen Zaubermelodien in den Schlaf wiegten.
Der Feenprinz dachte die ganze Zeit über nur an das schöne Mädchen, er verzehrte sich so sehr nach ihr, dass er vor Sehnsucht ganz krank wurde. 

Er wollte nicht mehr essen, nicht mehr ausreiten, nicht mehr seinen Pflichten nachgehen und nicht mehr lachen. 

Als Boann, Oengus Mutter und sein Vater Dagda von dem Kummer ihres Sohnes hörten, wollten sie ihm helfen und ließ ihre Boten in ganz Èriu nach der schönen Frau suchen, die Oengus so verzweifelt liebte. 

Fast ein Jahr lang durchkämmten die Gefolgsleute der Tuatha auch noch die entlegensten Winkel der Insel Èriu, bis sie die Jungfrau schließlich am Drachenmaulsee in Cruitt Cliach fanden. 

Sofort kehrten die Heerscharen zu Dagda zurück und berichteten, dass sie ein Mädchen ganz nach Oengus Beschreibung gefunden hatten.
Als Prinz Oengus davon hörte wollte er sofort aufbrechen um sich davon zu überzeugen, ob es sich wirklich um die Richtige handelte. 

Mit seinem Streitwagen fuhr er nach Sid ar Femuin.
Der König hatte ein großes Fest zu Ehren von Oengus vorbereitet um ihn willkommen zu heißen. 

Drei Tage und drei Nächte verbrachten sie feiernd. Doch danach machte Oengus sich ungeduldig mit seinen Begleitern auf den Weg zu besagtem See. 

Unbemerkt schlich er sich näher und sah auf dem Wasser eine Schar Schwäne gleiten, so weiß und rein wie frisch erblühte Apfelblüten.
Vor seinen Augen verwandelten sich die Schwäne in Jungfrauen und die Gesuchte befand sich unter ihnen.
Jedes der Mädchen trug ein goldenes Kettlein. 

Nur Oengus Mädchen trug silbernen Halsschmuck. 

„Wahrhaftig sie ist es. Ich erkenne sie wieder“ murmelte er.
„Mehr können wir nicht tun“ sprachen die Gefolgsleute. „Es ist Caer die Tochter von König Ethel von Connacht.
Sie lebt zusammen mit ihren Feenschwestern in der Gestalt eines Schwanes.“ 

Oengus sah ein, dass er das Mädchen nicht einfach mitnehmen konnte und so ritt er zum Vater des Mädchens um ihn um ihre Hand zu bitten.
Doch Ethal, der Vater von Caer, schüttelte nur den Kopf: „Ich kann dir leider nicht helfen, mein Prinz. Caer wird sich niemals meinem Willen beugen.
Die Macht die sie besitzt ist viel stärker als meine. Du musst sie schon selber fragen, denn kein lebender Mann kann über sie bestimmen.“
„So sage mir wenigstens über welche Macht sie gebietet und wo ich sie treffen kann um mit ihr zu sprechen“ bat Oengus den König.

„Nun gut, dass will ich dir sagen: In einem Jahr nimmt sie die Gestalt eines Schwanes an und im nächsten Jahr wieder die Gestalt eines Menschen.
Ich werde dir nun auch verraten, dass sie zum nächsten Samhainfest in der Gestalt eines Schwanes zum Loch Bél Dracon fliegen wird.
In ihrer Begleitung wird man wunderbare Vögel sehen, dreimal fünfzig Schwäne.“ 

Oengus bedankte sich bei Ethal und verlies sein Haus. 

Am nächsten Neumond zu Samhain, ritt Oengus zum Loch Bél Dracon.
Er sah dreimal fünfzig weiße Schwäne auf dem See.
Sie alle trugen goldene Kettlein um den Hals. Oengus stand in menschlicher Gestalt am Seeufer.
Er rief den einzigen Schwan mit silbernem Kettlein zu sich: „Komm Caer, sprich mit mir“
„Wer ruft mich?“ wollte Caer wissen. „Oengus ruft dich!“
„Ich werde kommen, wenn du mir versprichst, dass ich bei Morgengrauen zu meinen Feenschwestern zurückkehren kann“ bat Caer.
„Ich verspreche es“ So kam Caer in ihrer menschlichen Gestalt zu Oengus ans Seeufer und er gestand ihr seine Liebe und Zuneigung.
Caer war so berührt, dass sie ihn erhörte.
Die beiden verwandelten sich in Schwäne und flogen drei Mal über den See.
Als der Morgen dämmerte wollte auch Caer Oengus nie mehr verlassen.
Aus Liebe zu Caer verwandelte sich Oengus in einen Schwan.
Sie blieben für immer zusammen und lebten zu Weilen als Menschen und zu Weilen flogen sie wild und frei mit den Schwänen durch die Welt.

 

Keltisches Märchen